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Himmlische Juwelen

Himmlische Juwelen

Titel: Himmlische Juwelen
Autoren: Donna Leon
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keinen
besseren, keinen edleren Verwendungszweck dafür vorstellen, als davon die
himmlischen Juwelen zu erwerben, welche ich hiermit, dankbar für die
Großzügigkeit, die sie mir gegenüber bewiesen haben, zur Erbauung und
Bereicherung meinen lieben Cousins vermache.‹«
    Es folgten Datum und Unterschrift, und das war’s.
    »Das gehört also uns?«, fragte Scapinelli, als klar war, dass
Caterina mit der Verlesung des Dokuments fertig war. Er tat einen Schritt auf
die Truhe zu und spähte hinein. Sein Cousin stellte sich an seine Seite. Hatte
die eindeutige Verfügung des Erblassers dem Streit der beiden ein Ende gemacht?
    Caterina kam die Szene vor wie der Moment der Stille in einer
Rossini-Oper, ehe das gesamte Ensemble zum stürmischen Aktfinale anhebt. Würden
sie in den Gesang [293]  einstimmen? Paarweise? Im Terzett? Vielleicht könnte sie
ein Duett mit Roseanna singen? Sie hasste den Tenor.
    »Dottoressa«, sagte Moretti, der jetzt neben der Truhe stand, »ich
hielte es für richtig, wenn Sie diese Beutel jetzt öffnen würden.«
    Schweigen senkte sich über den Raum, während die Cousins über
den Vorschlag nachdachten. Stievani nickte, und schließlich sagte Scapinelli
zähneknirschend: »Va bene.«
    Caterina lief zum Schreibtisch, legte das Dokument mit der
Schriftseite nach unten hin und ging zur Truhe zurück. Sie beugte sich hinein,
holte immer zwei Beutel auf einmal heraus und trug sie zum Tisch.
    »Sind Sie sicher, dass ich sie öffnen soll, Dottore?«, fragte sie
Moretti, ihn nun ebenfalls siezend. Die drei Männer hielten eine weitere stumme
Besprechung, und da niemand Einspruch erhob, griff sie zum ersten Beutel. Das
Leder war trocken und hart, fühlte sich unangenehm an. Mit einiger Mühe bekam
Caterina den steifen Knoten auf, der die Enden der Lederschnur zusammenhielt;
dann weitete sie vorsichtig die Öffnung.
    Ein heftiger Widerwillen packte sie plötzlich: Sie wollte gar nicht
wissen, was in dem Beutel war, und erst recht wollte sie es nicht berühren. Sie
reichte den Beutel an Moretti weiter. Der griff hinein und zog vorsichtig
zwischen zwei Fingern einen Zettel hervor, auf dem in verblasster Tinte ein
paar Worte geschrieben standen. Er las, stöhnte auf und erstarrte.
    Scapinelli nahm ihm, weniger empfindlich, den Beutel weg und griff
hinein. Und zog einen dünnen langen Splitter [294]  heraus, den Caterina zuerst für
eine angelaufene silberne Schmucknadel hielt.
    Scapinelli besah sich das Ding auf seiner Handfläche. »Was zum
Teufel ist das?«, fragte er herausfordernd, als hätten die anderen sich
verschworen, ihm diese Information vorzuenthalten.
    Es dauerte eine Weile, bis Moretti das Schweigen brach. »Das ist ein
Finger des heiligen Kyrill von Alexandrien«, sagte er und hielt Scapinelli das
Zettelchen hin. Mit ehrfürchtig gedämpfter Stimme fügte er hinzu: »Säule des
Glaubens und Patriarch von Jerusalem.«
    Scapinelli fuhr herum und schrie: »Was? Von wegen Patriarch! Das ist
ein Knochen, um Gottes willen. Sind Sie blind ? Das
ist ein Stück Knochen.«
    Moretti nahm ihm den Splitter aus der Hand. Dann zog er sein
Taschentuch hervor, wickelte den winzigen Knochen andächtig ein und schlug
damit das Kreuz, indem er Stirn, Herz und Schultern berührte.
    Caterina erinnerte sich, es musste zwanzig Jahre her sein, an eine
Reise mit dem Nachtzug nach Venedig. Zum Glück waren sie nur zu dritt im
Abteil, sie und ein junges Pärchen. Gegen zehn wollte Caterina zur Toilette,
aber da sich dort eine lange Warteschlange gebildet hatte, dauerte es gut
zwanzig Minuten, bis sie zu ihrem Abteil zurückkehrte. Die Tür war zu und das
Licht aus. Sie schob die Tür auf, dachte noch, was für ein Glück sie hatte,
dass sie sich auf drei freien Sitzen zum Schlafen ausstrecken konnte, und
bemerkte dann im Licht, das aus dem Gang hineinfiel, die beiden nackten, im
Liebesspiel verschlungenen Leiber auf den Sitzen gegenüber den ihren.
    [295]  Ähnlich beschämt fühlte sie sich jetzt, als sie Dottor Morettis
Gesicht sah. In seinen Zügen spiegelte sich eine solche Ergriffenheit, dass
niemand das Recht hatte, ihn dabei zu beobachten. Schnell sah sie weg, ließ ein
paar Sekunden verstreichen, und reichte ihm den zweiten Beutel. Der darin
liegende Zettel bezeichnete den Inhalt als einen Fingernagel des heiligen
Petrus Chrysologus. Und so ging es weiter, bis alle sechs Beutel geöffnet und
die Gegenstände darin identifiziert waren. Und jedes Mal behandelte Moretti
dieses Stück getrocknetes Fleisch
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