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Himmlische Juwelen

Himmlische Juwelen

Titel: Himmlische Juwelen
Autoren: Donna Leon
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hin zu den blitzblanken Schuhen und den fast unsichtbaren Streifen in
seinem dunkelblauen Anzug. Er begrüßte Roseanna mit einem Nicken, Caterina mit
einem liebenswürdigen Lächeln. Er war in der Tat ein vernünftiger Mann.
    Sie gaben sich alle die Hand, und noch bevor Caterina auch nur ein
Wort sagen konnte, erklärte Scapinelli: »Gehen wir nach oben.«
    Also hatte Moretti sie ins Bild gesetzt. Schweigend ging Caterina
den anderen voran die Treppe hinauf und durch [290]  den Flur zum Büro des
Direktors. Sie trat auch als Erste ein; Moretti folgte, dann die Cousins, dann
Roseanna.
    Alle blieben an der Tür stehen, aber ihre Blicke richteten sich wie
Laserstrahlen auf die offene Truhe links neben dem Tresor. Doch sie blieben wie
gebannt stehen, so als könnte keiner von ihnen ohne den Beistand der anderen
einen Schritt weitergehen.
    Caterina fand, die Zeit der Höflichkeiten sei vorbei. »Möchten Sie
das Dokument sehen?«, fragte sie, ohne einen der Männer direkt anzusprechen.
    Der Bann schien gebrochen, und sie gingen alle im selben Augenblick
auf die Truhe zu, blieben aber kurz davor wieder stehen, als ob der Zauber hier
aufs Neue wirkte. Caterina schob sich zwischen ihnen hindurch, ganz die barocke maga , die über die Macht verfügte, die geheimen
Zeichen zu enträtseln. Sie nahm das Papier von der offenen Truhe und reichte es
Dottor Moretti.
    Der griff sofort zu, und die Cousins drängten sich an ihn heran und
starrten auf das Blatt. Stievani drängelte gegen Morettis Arm, um auf das
Papier zu schielen, und Scapinelli zückte ein Plastiketui und nahm eine
Lesebrille heraus.
    Caterina sah Moretti die Lippen bewegen, wie Italiener es beim Lesen
häufig tun. Nach einigen Sekunden schubste er mit seiner rechten Schulter
seitwärts, wie ein Küken, das sich mit einem Flügelchen Platz zu schaffen
sucht. Stievani trat daraufhin einen halben Schritt zur Seite, und Scapinelli
nutzte die Gelegenheit, noch enger aufzurücken.
    Moretti, der seine Wut nicht verhehlen konnte, gab Caterina das
Blatt zurück und sagte: »Vielleicht wäre es besser, [291]  wenn Sie das vorlesen,
Dottoressa.« Dass er sie wieder siezte, war ihr nur recht.
    Ihr entging nicht, wie die vier Augen der Cousins das Papier
verschlangen, während sie es wieder an sich nahm. Und diese Männer glaubten,
der jeweils andere werde sich an ihre Abmachung halten und dem Gewinner alles
überlassen?
    »›Im Angesicht meines nahen Todes greife ich, Bischof Agostino
Steffani, zur Feder, um auf eine in den Augen Gottes gerechte und billige Weise
zu verfügen, wie mit meinem Besitz zu verfahren ist.‹« Während sie las,
beobachtete Caterina, wie die drei Männer darauf reagierten, dass Gott mit ins
Spiel kam. Die Cousins wirkten unbeteiligt; Moretti aber glich einem Jagdhund,
der die Stimme seines Herrn vernommen hat.
    »›Mein Leben stand im Dienste meiner irdischen und meines göttlichen
Herrn, ihnen meine Treue zu beweisen, galt mein ganzes Streben. Ich habe auch
meiner eigenen Herrin gedient, der Musik, wenngleich nicht so beflissen und
nicht so treu.
    Ich habe nach irdischen Gütern gestrebt und sie vergeudet, und ich
habe Dinge getan, auf die kein Mensch stolz sein kann. Aber es kann auch kein
Mensch stolz auf den Akt sein, der mir meinen Lebensweg vorgegeben hat.
    Ich hinterlasse wenig, nur meine Musik und diese Schätze, die von
weitaus größerem Wert sind als alle Noten, die jemals niedergeschrieben oder
erdacht werden können. Die Musik übergebe ich dem Äther, die Schätze…‹«
Caterina unterbrach sich und studierte die Gesichter der Männer, deren Blicke
sklavisch an ihren Lippen hingen.
    [292]  Voller Abneigung las sie weiter: »›…die Schätze vermache ich
meinen Cousins, Giacomo Antonio Stievani und Antonio Scapinelli, zu gleichen
Teilen.
    Um jedem Verdacht zu entgehen, der Erwerb dieser Juwelen sei mir
durch das Anhäufen von Reichtümern möglich geworden, erkläre ich hiermit, dass
ich das Geld von einem Freund bekam, der mich verraten hat und einen anderen
Unschuldigen, gegen Judaslohn. Wie Judas bereute er seinen Verrat und kam zu
mir, um sich die Absolution erteilen zu lassen, vergaß dabei jedoch, dass es so
wenig in meiner Macht wie in der seinen steht, Sünden zu vergeben.‹«
    Caterina sah Roseanna und die drei anderen an. Roseanna, Stievani
und Scapinelli sahen alle gleichermaßen verwirrt aus. Nur Moretti schien ihr
folgen zu können, der Hund.
    »›Das Geld erhielt ich nach seinem Tod, und ich konnte mir
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