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Himmlische Juwelen

Himmlische Juwelen

Titel: Himmlische Juwelen
Autoren: Donna Leon
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konnte.
    Sie schloss die Faust um das Messer, das nun als Korkenziehergriff
diente, und drückte und drehte gleichzeitig. Abermals stieß sie auf Widerstand
wie bei ihren Versuchen, die Bodenplatte seitlich zu bewegen, dann aber schien
die Spitze tiefer einzudringen. Der Griff legte sich so nahe an die Seitenwand,
dass sie die Faust öffnen musste und nur noch mit der Handfläche weiter
dagegendrücken konnte.
    Und nun endlich bewegte sich der Boden der Truhe langsam nach oben.
Als das Messer horizontal die Seitenwand berührte, hatte sich der Boden so weit
aus der Ecke gelöst, dass sie erst die Fingernägel, dann die Finger
darunterschieben konnte. Vorsichtig zog sie daran, bis die Bodenplatte
plötzlich so reibungslos aufschwang wie der Deckel einer Zigarrenkiste. Als die
Platte senkrecht stand, bemerkten die beiden Frauen, dass die Kanten ringsherum
abgeschrägt waren. So war der Boden leicht einzusetzen und passte haargenau.
Herausstemmen ließ er sich nur mit einem spitzen, vorne gekrümmten Haken, der
in das Loch an der Seitenwand geschoben wurde.
    Caterina nahm die überraschend dünne Bodenplatte – kaum einen halben
Zentimeter dick – heraus und lehnte sie an die Wand. Beide Frauen beugten sich
über die Truhe, und Roseanna leuchtete mit ihrem Handy hinein.
    Sie sahen ein grobgewebtes Tuch, vielleicht ein Handtuch [284]  oder
eine kleine Tischdecke. Das Stück Leinwand, ohne Stockflecken, bedeckte den
ganzen Boden. Caterina griff mit beiden Händen hinein, fasste es an zwei Ecken
und nahm es hoch. Darunter lagen in einem Nest aus vermutlich demselben Stoff
sechs flache Lederbeutel von der altmodischen Sorte mit Zugschnüren als
Verschluss. Jeder etwa so groß wie eine Faust. Darauf lag ein Stück Papier.
    Caterina fasste das Blatt mit beiden Händen und hob es behutsam
heraus. Noch immer kniend, legte sie es oben auf die Ecke der offenen Truhe, um
es zu untersuchen.
    Sie erkannte die nach hinten geneigte Handschrift. »Im Angesicht
meines nahen Todes greife ich, Bischof Agostino Steffani, zur Feder, um auf
eine in den Augen Gottes gerechte und billige Weise zu verfügen, wie mit meinem
Besitz zu verfahren ist.«
    Sie riss sich von dem Text los und suchte unten nach dem Datum. 1.
Februar 1728: keine zwei Wochen vor seinem Tod.
    »Was ist das?«, fragte Roseanna.
    »Steffanis Testament.«

[285]  28
    »Oddio«, sagte Roseanna. »Nach
so langer Zeit.«
    Caterina hatte sich das Dokument nicht näher angesehen,
Zeugenunterschriften hatte sie keine bemerkt, doch nach drei Jahrhunderten kam
es darauf auch nicht mehr an. »Ich glaube, wir müssen sie holen«, sagte sie.
    »Wen?«
    »Dottor Moretti und die Cousins«, antwortete Caterina.
    »Ruf zuerst Dottor Moretti an«, meinte Roseanna. »Der muss hier
sein, sonst gibt es kein Halten mehr, wenn sie diese Beutel sehen.«
    Caterina sah das auch so. Morettis Nummer hatte sie in ihrem Handy,
und er begrüßte sie sofort: »Ah, Caterina. Welchem Umstand verdanke ich das
Vergnügen?«
    Sie bemühte sich um einen verbindlichen Ton. »Ich habe etwas
gefunden, das du und die Cousins euch ansehen solltet.«
    »Was denn?«
    »Eine testamentarische Verfügung«, platzte sie heraus.
    »Von Steffani?«, fragte er alarmiert und lauter als zuvor.
    »Ja«, sagte sie. »Und noch etwas anderes.«
    »Sag schon.«
    »Die zweite Truhe hatte einen doppelten Boden, darunter waren sechs
Lederbeutel versteckt. Zusammen mit der Verfügung, von ihm unterzeichnet.«
    »Bist du sicher?«
    »Ich kenne seine Handschrift inzwischen, und die hier sieht genauso
aus.«
    [286]  »Hast du die Cousins benachrichtigt?«
    »Nein, wir dachten, das sollten wir dir überlassen.«
    »Wir?«
    »Signora Salvi war dabei, als ich den Fund machte.«
    »Hast du nicht gesagt, du müsstest beim Lesen der Dokumente allein
sein?«, fragte er in ungewohnt gereiztem Ton.
    »Ich habe sie gebeten, mir beim Versetzen der Truhen zu helfen.«
    »Das hättest du mich bitten sollen«, sagte
er, und sie spürte, wie mühsam er sich beherrschte.
    »Ich konnte nicht wissen, was dabei zutage kommen würde«, sagte sie
ruhig. »Sonst wärst du der Erste gewesen, den ich in Kenntnis gesetzt hätte.«
    Sie ließ das eine Weile wirken, ehe sie fortfuhr: »Könntest du sie
anrufen? Und herkommen?«
    »Selbstverständlich. Umgehend.« Und dann betont ruhig: »Es wäre mir
lieb, wenn du nicht in besagte Beutel hineinsehen würdest.«
    »Ich bin hier angestellt, um Dokumente zu lesen. Für Beutel bin ich
nicht zuständig«, schnappte
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