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Himmlische Juwelen

Himmlische Juwelen

Titel: Himmlische Juwelen
Autoren: Donna Leon
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sollten, um möglichst bequem an die zweite zu kommen.
    Als sie sich einig waren, packten sie jede einen Griff, schleppten
die erste Truhe etwa einen Meter nach vorn und stellten sie vorsichtig auf den
Parkettboden. Dann setzten sie die zweite, deutlich schwerere, links daneben
ab. Ohne viele Worte verstauten sie die erste hinten im Tresor, dort, wo die
zweite gestanden hatte, und schoben diese dann davor.
    »Danke«, sagte Caterina. »Neugierig?«
    Roseanna, die beim ersten Öffnen der Truhen nicht viel von den
Papieren gesehen hatte, bestätigte das eifrig, hielt aber höflich Abstand, um
zu zeigen, dass nur Caterina das Recht hatte, die Truhe zu öffnen.
    Genau das tat Caterina jetzt, sie spähte hinein und sah, dass die
Papiere irgendwie durcheinandergeraten waren; die [278]  Stapel hatten sich
verschoben, Schnüre hatten sich gelöst. Einzelne Blätter steckten senkrecht
zwischen den Stapeln. Aus Erfahrung wusste sie, dass dies bei undatierten
Dokumenten zu Problemen führen konnte; also überlegte sie, wie sie alles so
herausnehmen konnte, dass zumindest die noch vorhandene Reihenfolge erhalten
blieb.
    Vielleicht sollte sie die losen Blätter zuerst entfernen und dann
zwischen den ursprünglichen Stapeln zu ertasten versuchen, ob sich alle Papiere
bis hinunter zum Boden der Truhe verschoben hatten.
    Sie hockte sich vor die Truhe, stützte sich mit der rechten Hand ab
und beugte sich vornüber. Dann schob sie die linke Hand zwischen den
ursprünglichen Stapeln vorsichtig nach unten. Während sie sich vorantastete und
die Papiere an ihrer Handfläche fühlte, hoffte sie auf eine Stelle zu stoßen,
wo die Stapel noch ordentlich voneinander getrennt waren.
    Als Roseanna hinter ihr unruhig wurde, zuckte sie irritiert
zusammen. Ihr linker Fuß rutschte auf dem glatten Parkett weg, sie verlor das
Gleichgewicht und kippte nach vorn über die offene Truhe. Ihre linke Hand
landete flach auf dem Boden der Truhe, ihre rechte mit durchgedrücktem Arm auf
dem Boden daneben. Ihr stockte der Atem.
    Eine lächerliche, tolpatschige Gestalt, kauerte sie halb inner- und
halb außerhalb des Tresors, das rechte Knie auf dem Fußboden, das linke Bein
lang hinter sich ausgestreckt. Roseanna war sogleich zur Stelle und versuchte,
ihr aufzuhelfen. »Alles in Ordnung?«
    Caterina antwortete nicht, hatte die Frage womöglich gar nicht
gehört. Sie zog das linke Knie an, verlagerte ihr Gewicht und kam so ein wenig
höher. Dann aber verharrte sie [279]  in der gebückten Haltung. Statt aufzustehen,
blieb sie knien, eine Hand in der Truhe, die andere außerhalb, beide flach
aufgelegt.
    »Was ist?«, fragte Roseanna und legte ihr die Hand auf die Schulter.
    »Der Boden«, sagte Caterina.
    »Was?«, fragte Roseanna und sah sich um.
    »Der Boden«, wiederholte Caterina. »Er ist tiefer als die Truhe.«
    Roseanna schien verwirrt, ließ aber die Hand, diesmal beruhigend,
auf Caterinas Schulter liegen. Behutsam fragte sie: »Was sagst du da,
Caterina?«
    Statt zu antworten, kam Caterina noch ein wenig hoch, ließ aber
beide Hände da, wo sie waren. »Der Boden der Truhe ist höher als der Fußboden«,
sagte sie, über die Schulter gewandt zu Roseanna. Als sie deren verdutzte Miene
sah, musste sie lachen.
    »Die Truhe hat einen doppelten Boden«, sagte sie. Einige Sekunden
vergingen. Roseanna musterte sie, bemerkte endlich, dass eine Schulter
Caterinas höher stand als die andere, und begann ebenfalls zu lachen.
    Caterina überlegte genau, was jetzt zu tun war. Langsam und
vorsichtig, dass nur ja keine Papiere beschädigt wurden, zog sie ihre Hand aus
der Truhe zurück und stand auf. In stillem Einverständnis packten die zwei
Frauen die Truhe an den Griffen und hoben sie weiter nach vorn. »Ich brauche
was zum Messen«, sagte Caterina, und Roseanna verstand sofort.
    »Der Schreiner«, sagte sie. »Auf der anderen Straßenseite. [280]  Der
müsste einen Zollstock haben.« Sie machte sich auf den Weg, noch ehe Caterina
antworten konnte.
    Caterina wandte sich wieder der Frage zu, wie sie die Papiere aus
der Truhe nehmen konnte, ohne sie in Unordnung zu bringen. Sie fuhr mit
senkrechten Handflächen je zehn Zentimeter tief an einer Seite und in der Mitte
hinein, bog die Finger einwärts und ließ sie zwischen die Papiere gleiten.
Zuerst ruckte sie das Ganze leicht auf und ab, dann vorsichtig hin und her.
Schließlich hob sie den Packen langsam an, stets bereit, beim leisesten
Widerstand alles loszulassen. Aber sie schaffte es, stand mit dem Stoß
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