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Der Teufel von Garmisch

Der Teufel von Garmisch

Titel: Der Teufel von Garmisch
Autoren: Martin Schueller
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EINS
    Man kann sich die Welt vorstellen. Man kann
sie erleben. Man kann sie fühlen. Man kann sie fürchten. Und man kann sie
formen. Erst dann kann man herrschen. Aber das fällt niemandem in den Schoß.
Man muss es sich erkämpfen. Es empfiehlt sich eine gute Bewaffnung.
    * * *
    Sebastian zog seine Daunenjacke an und nahm den Autoschlüssel
vom Haken. Der Fernseher dröhnte vom Wohnzimmer her durch die Diele. Sein Vater
saß regungslos im Sessel, aber Sebastian gab sich nicht der Illusion hin,
unbemerkt die Wohnung verlassen zu können.
    »Möcht amol wissn, wo du scho wieder hinwuillst, mitten in der
Nacht«, sagte sein Vater, ohne den Kopf zu bewegen.
    »Fahr halt noch ein bisschen rum«, antwortete Sebastian.
    »Wos?«, rief sein Vater.
    »Nur noch kurz an die Luft«, sagte Sebastian und öffnete die
Wohnungstür.
    »Schmarrn!«, war das Einzige, was sein Vater dazu sagte.
    Sebastian zog die Tür hinter sich zu und lief die Treppen hinunter.
Im Kellergeschoss öffnete er die schwere Stahltür zur Tiefgarage.
    Die Garage war der wenige Luxus, den das Haus an der Ludwigstraße
bot, abgesehen davon, dass es zentral lag. So zentral, dass sein Vater bequem
zu Fuß ins Wirtshaus gehen konnte. Wahrscheinlich hatte er die Wohnung nur
deshalb gekauft, nach Mutters Tod.
    Hinter ihm fiel die Garagentür ins Schloss, und er stieg in den R5,
dessen dunkles Rot irgendwann einmal fast elegant gewirkt hatte, aber mit den
Jahren recht schmuddelig geworden war. Er fuhr noch, das reichte Sebastian. Er
machte sich nichts aus Autos. Er machte sich ohnehin aus wenig etwas.
    Nur aus Sanne, aus Sanne machte er sich etwas.
    Er polierte die Gläser seiner Brille mit einem Papiertaschentuch,
bevor er den Motor anließ. Im Hals spürte er den Kloß, den er immer spürte,
wenn er unterwegs zu Sanne war. Er räusperte sich, während er den Wagen aus der
Garage steuerte.
    Du bist dreißig, dachte er, und du benimmst dich wie ein
bescheuerter Teenager. Wobei er sich eigentlich nicht mal als Teenager so
bescheuert benommen hatte.
    Aber er konnte es nicht ändern. Sanne war in sein Büro gekommen und
hatte sich als neue Kollegin vorgestellt. Und da war etwas in ihren Augen
gewesen, das er noch nie gesehen hatte. Ein Funkeln. Ein Funkeln, das er
niemandem sonst gönnte. Das er nur für sich haben wollte.
    Sebastian räusperte sich erneut, aber der Kloß verschwand nicht. Das
Rolltor öffnete sich, er fuhr die Rampe hoch und bog auf die Ludwigstraße. Die
Ampel an der Hauptstraße zeigte Rot. Der Parkplatz vor dem Irish Pub war
gefüllt. Fast ein Dutzend Raucher stand vor der Tür unter den Heizpilzen. Ein
nicht mehr ganz junges Paar ging Arm in Arm vor ihm über den Zebrastreifen. Der
Mann drückte der Frau zärtlich einen Kuss aufs Haar. Sebastian versuchte, es zu
ignorieren. Als die Ampel grün wurde, legte er den etwas widerspenstigen ersten
Gang ein und fuhr geradeaus in Richtung Garmisch.
    Trotz seiner dicken Jacke fror er. Sein Gehirn schien aus zwei
Teilen zu bestehen, die nichts miteinander zu tun hatten. Die eine Hälfte ließ
ihn funktionieren, seine Arbeit machen, auf seinen Vater aufpassen, wie er es
seiner Mutter versprochen hatte.
    »Du lässt ihn nicht allein, versprichst mir das, Bastl?«, hatte sie
ihn jedes Mal angefleht, wenn er sie in der Klinik besucht hatte. Dabei kannte
sie doch die Wahrheit: dass er und sein Vater noch nie irgendeinen Draht
zueinander gehabt hatten, nicht mal in seiner Kindheit. Und seit er sein
Studium abgebrochen hatte, schon überhaupt nicht mehr.
    Dann war Mutter gestorben, zerfressen vom Krebs.
    Und jetzt war es, wie es war. Er hatte sein Versprechen nicht
gebrochen, auch wenn es ihm jeden einzelnen Tag schwerfiel. Er trauerte dem
schäbigen Hof in Gerold nicht nach, aber es war arg anstrengend, eine so enge
Wohnung mit dem alten Mann zu teilen.
    In dieser Hälfte seines Gehirns war auch abgespeichert, was
geschehen war, als er Sanne zum Essen eingeladen hatte.
    Sie hatten im »La Vie« gesessen, und er hatte den ganzen Abend über
in das Funkeln gestarrt. Gut unterhalten hatten sie sich. Er hatte ihr von sich
erzählt, was es zu erzählen gab, sogar warum ihn im Büro alle »Milli« nannten.
    Sie hatte nicht gelacht.
    Und am Ende, vor ihrer Haustür, in seinem Wagen, hatte er sie
geküsst.
    Das heißt, er hatte es versucht. Denn sie hatte ihm eine gescheuert,
dass ihm die Brille von der Nase geflogen war.
    Er hatte sie angerufen, noch in derselben Nacht, hatte versucht,
sich zu entschuldigen, um
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