Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmlische Juwelen

Himmlische Juwelen

Titel: Himmlische Juwelen
Autoren: Donna Leon
Vom Netzwerk:
Liebe? Die Miene der Kleinen war die kindliche Version einer
großen Tragödin, und während die Stimme aus dem Computer »Dell’alma stanca«
sang, setzte die Kleine die gekränkte Miene kleiner Mädchen auf, die in
tiefster Seele einsam und verlassen sind. Doch als in der Arie die Worte »placidi respiri« fielen, beugte ihr Vater sich zu ihr
hinüber und gab ihr [275]  einen Kuss auf die Wange. Das Mädchen sah ihn so
freudestrahlend an, dass Caterina den Blick abwandte und sich lieber um ihr Essen
kümmerte.
    Als sie ihr Abendessen und ein frisches Glas Wein auf den Tisch
stellte, hatten die Bärs Esstisch und Küche verlassen. Zum Lesen hatte Caterina
keine Lust, auch über Kinder wollte sie nicht nachdenken; stattdessen nahm sie
sich die Männer vor, die historischen und die aktuellen, mit denen sie seit
ihrer Rückkehr nach Venedig zu tun hatte. Dabei hielt sie sich nicht an die
Chronologie. Ihre Gedanken sprangen von einem zum andern, drei Jahrhunderte vor
und zurück, immer auf der Suche nach Ähnlichkeiten: ihre Wirkung auf Frauen,
ihre Loyalität gegenüber Freunden, ihr Pflichtbewusstsein, die Ernsthaftigkeit
ihres Strebens.
    Nach langem Nachdenken und zu ihrer großen Überraschung stellte sie
fest, dass der interessanteste aller dieser Männer Steffani war, auch wenn sie
sich kein klares Bild von ihm machen oder etwas anderes als Mitleid für ihn
empfinden konnte. Ein Priester, ein Proselytenmacher, womöglich ein Spion im
Dienst des Vatikans: All das war Steffani, und all das lehnte die moderne
Caterina, geprägt durch ihre eigene Zeit, ab. Andererseits hatte sie keinen
Hinweis darauf, dass Steffani jemanden verraten oder sich dafür ausgesprochen
hätte, Ketzer zu verbrennen. Und er hatte diese Musik geschrieben, deren Klänge
sie immer noch erbeben ließen.
    Beim Abwasch dachte sie weiter über ihn nach. Er hatte den Vatikan
und die Arbeit der Propaganda Fide von innen gekannt und durchschaute deren
machtpolitische Winkelzüge. Sie trocknete gerade den Rand ihres Weinglases ab,
als ihr aufging, dass sie noch immer keine Ahnung hatte, ob [276]  Steffani ein
gläubiger Mensch war oder nicht. War er ein Mann seiner Zeit, opportunistisch
wie jeder andere; benutzte er die Kirche als Mittel, um Karriere zu machen, und
bekehrte er andere Leute nur für die Statistik? Oder glaubte er wirklich und
wünschte anderen dasselbe Seelenheil, das er gefunden zu haben glaubte? Nichts,
was sie über ihn gelesen hatte, half ihr bei der Beantwortung dieser Frage.
Zeugte das Stabat Mater von glühendem Glauben oder
von musikalischem Genie?
    Am nächsten Morgen stand Caterina um neun Uhr vor der Stiftung,
um mit den Papieren in der zweiten Truhe anzufangen. Während sie die Haustür
hinter sich ins Schloss zog, drangen ihr aus Roseannas Büro Geräusche entgegen,
die ihr wie Göttermusik in den Ohren klangen. Und wie sie gleich darauf
feststellte, hatte sie richtig gehört: Roseanna tippte. Klick und klack und
schwirr und zack und klick, klick, klick, klack, klick, klick.
    Sie klopfte an den Türrahmen, und Roseanna blickte lächelnd auf.
»Möchtest du auch mal?«, fragte sie.
    Caterina schüttelte ungläubig den Kopf wie angesichts eines Wunders.
»Nein, danke. Aber ich möchte dich bitten, mir zu helfen.«
    Ohne zu fragen, worum es ging, ließ Roseanna ihre Arbeit liegen und
stand auf. »Mit Vergnügen.«
    »Oben. Die Truhen«, sagte Caterina. »Ich möchte mit der zweiten
anfangen, mich aber nicht immer über die erste bücken müssen, um
hineinzulangen. Könntest du mir helfen, die beiden auszutauschen?«
    »Gute Idee«, sagte Roseanna. »Mit dem Rücken ist nicht [277]  zu spaßen;
du würdest dir sonst was holen, wenn du dich immer so weit hineinbücken
müsstest, besonders wenn es an die Papiere ganz unten geht.«
    Während sie über Rückenschmerzen redeten und über Bekannte, die
darunter litten, stiegen sie die Treppe zum Büro des Direktors hinauf. Caterina
schloss auf, ging voran und registrierte überrascht, wie warm es in dem Raum
war, fast schon beunruhigend. War womöglich ein Feuer ausgebrochen? Doch
Roseanna öffnete nur ein Fenster und klappte die Läden zurück, und schon kam
mit dem Sonnenlicht frische Frühlingsluft und Vogelzwitschern herein.
»Endlich«, seufzte Roseanna erleichtert. Sie stieß auch das andere Fenster weit
auf.
    Caterina genoss das Lüftchen und erfreute sich an dem Zwitschern.
Sie öffnete den Tresor sperrangelweit. Die Frauen überlegten, wohin sie die
erste Truhe stellen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher