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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Hilf mir.
    Der Hund hob den Kopf und lauschte. Doch außer ihm schien niemand etwas gehört zu haben. Das große Haus blieb still. Ein Mond mit milchweißem Hof erleuchtete die Nacht und warf kalte Schatten. Über die Ufer des kleinen Flusses war der Nebel gekrochen und hatte sich in der Senke gesammelt. Die Bäume ragten wie abgeschnitten aus dem Dunst, in den kahlen Ästen hingen die Misteln.
    Der Hund legte den Kopf wieder auf die Vorderläufe. Er schloss die Augen und schlief ein. Im Traum jagte er bunte Bälle oder junge Eichhörnchen. Seine Pfoten zuckten, der Schwanz streifte über den Boden. Vielleicht sprang er gerade über einen Graben, oder eine der Dorfkatzen erschreckte ihn – er fuhr zusammen, heftig, als sei er beim Spielen unversehens an den Rand eines Abgrunds getollt, riss die Augen auf und kam auf die Beine. Der Ruf, der ihn geweckt hatte, war für niemanden hörbar, nur für ihn und die Ohren der anderen Hunde – doch die schliefen. Oder sie waren taub. Oder sie spürten nicht, was diesen Ruf begleitete. Etwas, das uralt war, so alt wie die Geschichten der Menschen über ihre treuesten und tapfersten Gefährten.
    Hilf mir!
    Suchend, nervös, unruhig lief er durch das Zimmer. Dann zwängte er sich durch den schmalen Türspalt in den Flur und lief zur Haustür. Er schnupperte, spitzte die Ohren, scharrte auf den Dielen. Ein leises Winseln drang aus seiner Kehle. Schließlich versuchte er ein kurzes Bellen. Vergeblich.
    Alles schlief. Und dennoch hörte er, dass jemand seinen Namen flüsterte. Dennoch spürte er, dass etwas geschah. Dennoch wusste er, dass man ihn brauchte. So sehr.
    Der Hund war noch jung. Gemessen in Menschenjahren befand er sich gerade in der Zeit, in der die Welt ein buntes Bilderbuch ist und alle Wesen das Vertrauen wert sind, das er ihnen entgegenbrachte. Er wusste, wer ihn rief. Es war das Mädchen. Und noch etwas klang mit in diesem stummen Hilfeschrei. Eine zweite Stimme. So dünn, so leise, so hilflos.
    Wieder spitzte er die Ohren, um gleich darauf, von Unruhe getrieben, zur Gartentür zu laufen. Er hatte schnell gelernt, wie einfach sie zu öffnen war. Trotzdem misslangen mehrere Versuche, bis er die Klinke im richtigen Winkel erwischt hatte. Es waren viele Leute im Haus, doch nirgendwo brannte Licht. Sie lagen in den Betten, rochen schlecht und schliefen. Er achtete nicht darauf, leise zu sein. Das Einzige, worauf er achtete, war das angstvolle Flüstern und das Wimmern in seinen Ohren und der schmale Pfad durch das erfrorene Unkraut, der ihn hinaus auf die Straße führte.
    Er nahm die Mitte der Straße und raste los. Pfeilschnell, sein Ziel vor Augen. Hätte man ihn gerufen – er wäre nicht mehr umgekehrt. Nicht der Jagdinstinkt, etwas anderes hatte ihn gepackt und trieb ihn an. Das trübe Licht der Straßenlaternen brauchte er nicht. Er sah alles. Aber er nahm nicht alles wahr. Er achtete nicht auf die heruntergelassenen Rollläden, nicht auf die kleinen Autos, die am Straßenrand abgestellt worden waren. Nicht auf das gelbe Licht der Laternen, deren Schein die Welt noch trostloser machte als jede gnädige Dunkelheit. Nicht auf die grauen Häuser, nicht auf das entlaubte Gebüsch, die berstenden Betonplatten, die schiefen Zäune. Er hechtete durch das Dorf, als sei ein ganzes Rudel fauchender Dorfkatzen hinter ihm her. Erst als er die letzten, dunklen Häuser hinter sich gelassen hatte und an die Mauer des Aussiedlerhofes kam, verlangsamte er sein Tempo. Genauso wie er die Stimme gehört hatte, die ihn gerufen hatte, vernahm er jetzt eine zweite, tief aus seinem Inneren: Gefahr, flüsterte sie. Eine unbekannte, beängstigende Gefahr. Er kroch in den Straßengraben und blieb geduckt liegen.
    Er kannte die Gestalt, die aus dem Tor trat und sich vorsichtig umsah. Sie trug etwas in der Hand – einen Eimer, der ihr die Schulter auf einer Seite nach unten zog. Sie wickelte sich einen Schal um das Gesicht. Vielleicht wollte sie sich maskieren und die Menschen täuschen, bei dem Hund gelang ihr das nicht. Er erinnerte sich an ihren Geruch und daran, dass er oft schwanzwedelnd auf sie zugelaufen war. Nun witterte er etwas, das ihn davon abhielt, es jetzt wieder zu tun. Etwas, das ihn auf der einen Seite rasend, geradezu wütend neugierig machte und auf der anderen ängstigte. Einen Geruch, der ihn magisch anzog – er witterte ihn vorm Haus des Metzgers, wenn er vorüberschnürte, er witterte ihn, wenn er auf den zerrissenen Kadaver eines Vogels stieß oder die
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