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Das Dorf der Mörder

Das Dorf der Mörder

Titel: Das Dorf der Mörder
Autoren: Elisabeth Herrmann
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plattgefahrenen Überreste eines Fuchses auf der leeren Landstraße. Doch diese Gestalt vor ihm war nicht geschlachtet, überfahren oder zu Tode gehetzt worden – sie lebte. Sie schlich in der Dunkelheit mit ihrer geheimnisvollen Last vom Hof und roch, als hätte sie in Blut gebadet.
    Angst …
    Das Flüstern war wieder da. Die Gestalt lief die Straße hinab ins Dorf. Der Hund machte einen Satz und rannte hinter ihrem Rücken auf das Tor zu, das noch einen Spalt breit geöffnet war. Er war noch jung und wusste nicht, wie laut das Scharren seiner Pfoten in der stillen Winternacht zu hören war. Und er sah nicht, wie die Gestalt erschrocken zusammenfuhr und sich umdrehte, ins Taumeln geriet, fast die Balance verlor. Aber er hörte, dass sie ihn rief – zornig und leise, denn sie wollte niemanden wecken. Doch wer leise war, war machtlos. Der Hund lief weiter.
    Die beiden Hofhunde kannten ihn. Knurrend stellten sie sich ihm in den Weg. Er benutzte eine List und raste auf die Ställe zu. Die alten Kämpfer waren zu langsam. Er schlug einen Haken und entkam ihnen. Die Hofhunde waren zu müde und zu oft geschlagen worden, ihr Protest beschränkte sich auf ein böses Grollen. Die Tür zum Haus stand halb offen. Er war so schnell, dass er auf den Fliesen ins Schlittern kam.
    Im ersten Stock brannte Licht. Er rannte die Treppe hoch und sah sie fast zu spät: die Frau, die ihn schon einmal getreten hatte. Sie kam aus dem Zimmer mit den gelben Kacheln. Ihre Stimme war böse. Sie roch nach der Flüssigkeit, die die Leute oft gemeinsam tranken, bevor sie laut und grob wurden. Er hasste diese Flüssigkeit und den Geruch. Sie rief ihm etwas hinterher, aber er war schon an ihr vorbei und sie zu langsam, um ihm noch einen Tritt zu versetzen. Auch sie roch nach Blut. Die Treppe, das ganze Haus roch so. Sie hielt einen Schrubber in der Hand. Der Geruch peinigte ihn, er machte ihm Angst.
    Die Hofhunde bellten nun doch. Vielleicht fürchteten sie sich auch. Vielleicht spürten sie ebenfalls, dass etwas nicht stimmte. Ihr Bellen wurde leiser, sie schnupperten, witterten, nahmen die Fährte auf. Er hörte, wie sie ins Haus kamen. Die böse Stimme der Frau gellte in seinen Ohren.
    Der junge Hund raste hoch zum Dachboden und blieb winselnd vor Angst vor einer schmalen Tür stehen. Er jaulte, fiepte, scharrte. Er versuchte ein zaghaftes Bellen, hörte aber sofort auf, als die Frau mit schweren, schleppenden Schritten die Treppe hochkam, den Schrubber drohend erhoben. Er drehte sich einmal um sich selbst in der Hoffnung, einen Fluchtweg zu finden, versuchte ein lächerliches Knurren, das sie niemals davon abgehalten hätte, ihm wieder in den Bauch zu treten. Hektisch tanzte er vor der Tür auf und ab. Die Frau kam näher.
    Da ging endlich die Tür auf. Er schlüpfte hinein, das Mädchen warf sie hinter ihm zu. Der Hund hechelte.
    »Schschsch. Sei still!«, flüsterte sie.
    Die Schritte auf der Treppe verharrten. Schließlich drehte sich die Frau um und ging wieder hinunter. Das Mädchen fiel auf die Knie und vergrub sein Gesicht im Fell des Hundes.
    »Bruno«, flüsterte sie.
    War das sein Name? Er wedelte mit dem Schwanz und leckte ihr tränennasses Gesicht ab. Das Kind zitterte. Unten kehrten die Hofhunde nach draußen zurück, unzufrieden, nervös. Und dann geschah etwas Seltsames, das der junge Hund noch nie erlebt hatte: Die Hunde im Dorf begannen zu heulen. Erst die auf dem Hof. Dann die anderen. Fast jedes Haus hatte einen Hund. Und plötzlich schienen alle auf einmal zu erwachen.
    Der junge Hund wand sich aus den Armen des Mädchens und rannte ans Fenster. Er richtete sich auf. Seine Vorderpfoten erreichten gerade mal das Fensterbrett. Er konnte nicht sehen, was vor sich ging. Doch er konnte es hören.
    Ein vielstimmiger Klagegesang schwoll an. Er war wie eine Nachricht, die sich verbreitete. Wie ein uraltes Lied von Grauen und Angst. Das Heulen setzte sich fort, kroch durch das Dorf wie ein Lauffeuer. Etwas war geschehen, etwas, das nie hätte geschehen dürfen.
    Der junge Hund sah das Mädchen. Es spürte dieselbe namenlose Furcht wie alle Wesen dort draußen, die von dem Verderben geweckt worden waren, das das Dorf heimgesucht hatte. Er zog den Schwanz ein. Das Mädchen ging zurück ins Bett, ein schmales Bett unter der Dachschräge, und schlüpfte unter die Decke. Der Hund folgte ihr. Er legte sich neben sie und spürte ihr Zittern. Sie roch nicht nach Blut, sondern nach Seife. Sie hatte lange, dunkle Haare und zarte Hände, mit
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