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Himmel und Hölle

Titel: Himmel und Hölle
Autoren: Hera Lind
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auf ihre Mutter. Also schaute ich nach vorn.

36
    Bei einem Gebärmutterkarzinom heißt es nach der Operation fünf Jahre warten, bis der Krebs als besiegt gilt.
    Bis dahin musste ich alle drei Monate zur Kontrolluntersuchung bei Professor Aigner. Das war nicht schön: Finger vorn, Finger hinten. Mit gespreizten Beinen lag ich auf jenem Untersuchungsstuhl, an dem ich Tausende Male als seine Assistenzärztin neben ihm gestanden hatte.
    Wie viel Elend hatte ich hier schon gesehen! Krebs kann jeden treffen: Reiche, Arme, Dicke, Dünne, Sportliche, Faule, Gesundheitsapostel und Fast-Food-Fanatiker. Einfach alle. Schon damals fielen mir keine tröstenden Worte auf die Frage ein: »Warum ausgerechnet ich?« Darauf konnte ich keine Antwort geben.
    Und nun, nachdem es mich selbst getroffen hatte, wusste ich immer noch keine Antwort.
    Während der Professor die unangenehmen Untersuchungen an mir vornahm, träumte ich mich wieder ans Ziel. Ich dachte oft an Venedig, sah die Gondeln deutlich vor mir auf dem glitzernden Wasser schaukeln, hörte den Gesang des Gondoliere und das Plätschern des Ruders im Wasser. Ich sah, wie unsere vier
Kinder auf dem Markusplatz Tauben jagten, in luftigen Sommerkleidern. Ich sah, wie wir alle Hand in Hand Eis essend durch die Gassen der Altstadt schlenderten. Wie wir von der Rialto-Brücke ins Wasser blickten. Wie wir Steinchen ins Meer warfen. Wie wir abends alle zusammen in einem schönen Hotel Einzug hielten. Ich stellte mir das allerschönste Hotel Venedigs vor. Die schönsten Gemächer, ganz romantisch. Eines, bei dem man nur mit der Gondel vorfahren kann. Wo einem die livrierten Pagen aus der Gondel helfen und man über Samtteppiche in die Empfangshalle mit den Murano-Glasleuchtern gelangt. Wo einem der Portier lächelnd einen dicken goldenen Zimmerschlüssel an einem roten schweren Samtband überreicht. Oben hat man vom Balkon aus einen unvorstellbar schönen Blick über die Lagune. Die Kinder standen an der Brüstung und staunten, und Stefan reichte mir ein Glas Champagner und legte den Arm um mich. Es war mein Lieblingstraum.
    »Für diesmal ist alles in Ordnung, Frau Doktor Kuchenmeister. Und jetzt gehen Sie bitte rüber ins Labor und lassen sich Blut abnehmen.« Der Professor wusch sich die Hände und half mir auf die Beine. »Wenn der Tumormarker schön auf 0,3 ist, können Sie gleich wieder zu Ihren Kindern fahren. Dann sind Sie bis zum nächsten Mal erlöst.« Er schüttelte mir die Hand. »Und grüßen Sie mir Ihren … ähm … Mann.«
    Ich nickte beklommen. »Mach ich. Und … danke, Chef.«
    »Wofür?«

    »Für alles.«
    »Als Kollegin hätte ich Sie lieber wiedergesehen.« Plötzlich umarmte mich der Professor, bevor er mit wehendem Kittel den Raum verließ.
     
    Der Tumormarker SCC war mein ganz persönlicher Albtraum. Schon eine Woche vor dem Kontrolltermin konnte ich nachts nicht mehr schlafen. Vor keinem Examen und keiner Probe-Operation hatte ich jemals solches Lampenfieber gehabt wie vor dieser Blutwertmessung. Drei Jahre lang ging alles gut.
    Und dann lag der gefürchtete Wert plötzlich bei 0,7 und betrug damit mehr als das Doppelte!
    Mein Herz raste. Nein, nicht schon wieder! Bitte, nicht schon wieder ich. Ich habe doch jetzt bereits drei Jahre überlebt. Das kann doch nicht wahr sein! Nicht jetzt, wo Mini erst acht war, Konstantin gerade eingeschult wurde und die Zwillinge soeben ihren dritten Geburtstag gefeiert hatten. Nicht jetzt, wo wir ein Haus entdeckt hatten. Unser Haus. Unser Traumhaus. NEIN. Das kann doch nicht … Das ist doch nicht … Das ist doch völlig unmöglich! Wieder sah ich mich in der Klinik Einzug halten, sah mich auf dem Operationstisch, auf der Intensivstation …
    »Oh«, sagte die nette Laborantin. »Das Gerät scheint zu spinnen.« Hilfe suchend sah sie ihre Kollegin an, die bereits zum Telefon griff.
    Das war genau der Trick, mit dem jeder Patient vertröstet wurde! Um Zeit zu gewinnen und Hilfe zu holen. Ich WUSSTE, dass das Gerät nicht spann! Wenn
der Tumormarker so hoch war, dann hatte ich Metastasen. Dann ging jetzt alles wieder von vorne los.
    Ich atmete tief aus.
    Ich schaffe das. Ich MUSS. Ich kann. Ich werde leben.
    Wir wiederholten die Messung sofort. Ich umklammerte das Eisengeländer des Bettes, auf dem ich lag, und betete leise: Lieber Gott, bitte nicht schon wieder. Bitte lass meine Kinder nicht schon wieder ins Bodenlose fallen. Bitte lass …
    Den neuen Laborwert würde ich allerdings erst am Abend erfahren, so lange
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