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Himmel und Hölle

Titel: Himmel und Hölle
Autoren: Hera Lind
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dauerte die Auswertung.
    »Konstanze, fahr nach Hause und entspann dich. Ab sechs Uhr kannst du uns anrufen.«
    Also fuhr ich nach Hause und zitterte von Kopf bis Fuß. Um mich abzulenken, schälte ich Kartoffeln. Belud die Waschmaschine. Las mit der Mini ein Buch. Zeichnete mit Konstantin einen Baum, einen Lebensbaum. Streichelte die Zwillinge und sang sie mit brüchiger Stimme in den Schlaf.
    Dann war es sechs. Mit wackeligen Beinen ging ich zum Telefon. Noch immer kein Ergebnis. Bitte später noch mal anrufen. Im Zwanzig-Minuten-Takt nervte ich die Labormitarbeiterinnen, wie das sonst nur Stefan kann. Der rief mich wiederum vom Auto aus im Minutentakt an und bretterte zu uns nach Hause.
    Es war die Hölle. Die reinste Hölle.
    Kurz vor den Tagesthemen, um 22.28 Uhr, bekam ich das Ergebnis endlich durchgefaxt: Das Rattern des Geräts ging mir durch Mark und Bein. Ich rannte darauf
zu und warf unseren Wohnzimmersessel um, ohne den Schmerz an der Hüfte zu spüren. Mit schweißnassen Fingern griff ich nach dem Fax und überflog fassungslos den Text: 1,5! Der Wert war fünfmal so hoch, wie er sein sollte. Und mehr als doppelt so hoch wie das Ergebnis, das man mir noch morgens mitgeteilt hatte. Der Krebs hatte seine Krallen wieder ausgefahren. Er legte sie schon um meine Kehle wie der Tod im »Jedermann«. Er gönnte mir keinen Aufschub, keine Gnade.
    Ich war siebenunddreißig, verheiratet und eine vierfache Mutter. Ich durfte nicht sterben.
    Aber dem Krebs war das egal.
    Mein Herz setzte aus vor lauter Panik. Das war eine Katastrophe. Das war ein Albtraum. Bitte, lieber Gott, lass mich endlich aufwachen. Das war doch völlig unmöglich … Ich hatte doch letzte Woche noch … Das bedeutete, dass ich bereits voller Metastasen war, im ganzen Körper. Sämtliche Organe waren befallen. Leber, Niere, Lungen … einfach alles. Ich würde in drei Monaten tot sein. Ab jetzt begann mein qualvolles Sterben. Es gab keine Hoffnung mehr. Keine Chance. Dieser Anstieg war so enorm, dass mir niemand mehr helfen konnte. Auch nicht der Professor. Keine Operation, keine Bestrahlung, keine Chemo. Und auch keine Durchhalteparolen von Stefan.
    »Das kann nicht sein!«, schrie Stefan erschöpft, als er mein aschfahles Gesicht sah. Er telefonierte sofort mit Dr. Ulrich Strunz, dem Internisten, der ihn das Laufen gelehrt hatte. Auch dieser Mann hatte so einiges
hinter sich. Einen schrecklichen Unfall. Auch er wusste, wie sich Todesnähe anfühlt. Auch er hat gekämpft, als alles unmöglich schien. Er war ein Freund und Kollege, ein Vertrauter. Für uns der größte Arzt unserer Zeit: Dr. Ulrich Strunz.
    »Geben Sie einfach morgen früh noch mal Blut! Lassen Sie sich nicht verrückt machen!« Das klang so locker und leicht wie seine Laufparolen: Immer schön auf der Stelle traben! Nur nicht in den anaeroben Bereich kommen! Magnesium ist das Salz der inneren Ruhe. Ich hätte SCHREIEN können!!! Aber meine Stimmbänder versagten ihren Dienst.
    »Ich sterbe, Herr Strunz«, wimmerte ich ins Telefon. »Ich will nicht sterben! Ich darf nicht sterben! Ich bin voll verkrebst! Alles ist voll mit Metastasen!«
    »Mädchen, jetzt bleiben Sie mal ganz ruhig.«
    »Ich bin ganz ruhig«, wimmerte ich.
    »Die Laborantinnen KÖNNEN sich geirrt haben«, tröstete mich Dr. Strunz. »Die Chance besteht. Glauben Sie ganz fest daran.«
    Die Nacht war fürchterlich. Ständig stand mir der Tod vor Augen, und sowohl Stefan als auch ich fanden keinen Schlaf. Weinend klammerten wir uns aneinander. Dabei war es nur eine kleine Zahl auf einem Stück Papier!
    Der SCC lag bei 1,5. Und war damit fünfmal so hoch wie in allen zwölf Quartalen seit der Operation: 0,3. 0,3. 0,3. 0,3. 0,3. 0,3. 0,3. 0,3. 0,3. 0,3. 0,3. 0,3. 1,5. Und da soll man cool bleiben? Das fiel sogar meinem Stefan schwer.

    Um sieben Uhr früh standen wir beim Labor wieder auf der Matte. Alle guten Dinge sind drei. Drei Mal Blutmessen in vierundzwanzig Stunden.
    Diesmal war es meine Freundin Anja, die mir das Blut abnahm. Dabei legte sie ihre Finger beruhigend auf mein pulsierendes Handgelenk. »Ruhig, Konstanze. Ruhig. Nicht kollabieren jetzt! Wir machen jetzt noch eine Messung, in aller Ruhe …« Ihre Finger zitterten.
    Plötzlich flog die Tür auf, und Professor Aigner wehte herein. Er streifte Stefan und mich mit einem nervösen Seitenblick. Er hatte sich beim Rasieren geschnitten. Ein Pflaster klebte auf seiner Wange. Offensichtlich hatte man ihn von zu Hause herbeitelefoniert.
    »Was ist denn jetzt
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