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Himmel und Hölle

Titel: Himmel und Hölle
Autoren: Hera Lind
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die unter den eigenen Händen geglättet wird, kann man auch andere Falten im Leben glätten. Das Bügeln war sozusagen ein symbolischer Akt. Außerdem musste Stefan tadellos aussehen auf seinen wichtigen Meetings.
    Tja, genauso hatte das meine Mutter auch gehandhabt:
Auch sie war immer »wie aus dem Ei gepellt«, und wie es »innen drinnen« aussah, ging keinen was an.
    Mein Stefan arbeitete nach wie vor wie ein Tier. Pausenlos entwarf er Strategien, entwickelte Verbesserungsvorschläge, verhandelte. Er genoss den Ruf, ein Retter in der Not zu sein. Sein Handy klingelte unaufhörlich, und er konnte gleichzeitig ein Unternehmen beraten und die Spülmaschine ausräumen. Wenn er zu Hause war, packte er sofort mit an. Selbstverständlich brachte er die Kinder ins Bett. Er bügelte auch selbst, wenn ich nicht dazu kam. Er stellte sogar einen Geschwindigkeitsrekord von drei Minuten pro Hemd auf. Das demonstrierte er jeder Putzfee beim ersten Gespräch.
    Im Laufe der nächsten Jahre konnte ich die Praxis erweitern, und wir sparten an allen Ecken und Enden für ein eigenes Zuhause. Nie hatten wir jemals eine Reise gemacht. Noch nicht mal die Rehaklinik hatte ich mir gegönnt. Nie waren wir auch nur übers Wochenende weggefahren. Wenn wir nicht arbeiteten, waren wir bei unseren Kindern. Die klammerten sich an uns wie Ertrinkende an einen Strohhalm. Zerstreuung brauchten wir nicht. Ich hatte seit bald zwanzig Jahren kein Kino von innen gesehen, kein Theater, keine Konzerthalle, keinen Golf-, Tennis- oder Reitclub und auch kein sonstiges Etablissement, das dem reinen Freizeitvergnügen gilt. Den Nürnberger Opernball schwänzten wir in jedem Jahr.
    Wenn der letzte Handschlag im Haushalt erledigt war, wenn das letzte Kind aufgehört hatte zu weinen,
wenn die letzte Abrechnung am Computer gemacht war, fiel ich wie ein Stein ins Bett.
    Durch Stefans unermüdliches Anfeuern - »Du schaffst es, Konstanze, du schaffst es!« - hatte ich mich jahrelang gefühlt wie ein Sport-Wettkämpfer, der bis an seine absoluten körperlichen und seelischen Grenzen geht. Einen Marathon? Eine Tour de France? Durch den Ärmelkanal schwimmen? Durch die Wüste laufen?
    Ich muss. Ich muss. Ich muss. Jetzt. Jetzt. Jetzt.
    Bestimmt trug auch die strenge Erziehung meiner Eltern dazu bei: Hängen lassen gilt nicht. Sitz gerade, reiß dich zusammen, lächle, sei höflich, fleißig und bescheiden. Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt, also stell dich hinten an. Leiste erst mal was, bevor du Ansprüche stellst. VERDIEN dir dein Glück. Das Glück, das dir in den Schoß fällt, ist nichts gegen das Glück, das du dir erarbeitest. Wohlstand? Nicht selbstverständlich. Bildung? Nicht selbstverständlich. Gesunde Kinder? Nicht selbstverständlich. Glückliche Ehe? Nicht selbstverständlich. Gesundheit? Nicht selbstverständlich.
    Stefan, der sich stets an Ausnahme-Vorbildern orientierte, drückte mir eines Abends einen Artikel in die Hand, den er im Focus gefunden hatte. Er handelte von Florian Sitzmann, dem Vize-Weltmeister im Handbike. Der Name ist auf makabere Weise Programm, denn der Mann verlor mit fünfzehn bei einem Motorradunfall beide Beine. Ein Lastwagen fuhr sie ihm ab. Ohne jede psychologische Betreuung oder Selbsthilfegruppe
schaffte es dieser junge Kerl, seinem Leben wieder einen neuen Sinn zu geben. Er arrangierte sich mit dem Rollstuhl und begann, wie wild zu trainieren: Ich will. Ich kann. Ich werde. Das Leben geht weiter. Er versagte sich, quasi als Selbsttherapie, den Blick zurück. Hätte. Könnte. Wäre. Würde - das führt zu nichts. Außer zu Zweifeln, Zeitverlust, Energieverlust, Depression und Selbstmitleid. Jammern bringt einen nicht weiter. Konsequentes Ignorieren der eigenen Unpässlichkeit, des eigenen Elends, hat ihn, Florian Sitzmann, den Mann ohne Beine, wie mich, die Frauenärztin mit Gebärmutterhalskrebs, am Leben gehalten. »Nicht über eine Situation grübeln, die sich nicht ändern lässt.« So lautete unsere gemeinsame Devise. Florian Sitzmann hat es durch die Kraft seiner Arme und die Kraft seines Willens geschafft, 540 Kilometer und 4500 Höhenmeter in dreißig Stunden zurückzulegen. Damit wurde er Weltmeister. Seine mentale Stärke hat alle, die noch auf zwei Beinen laufen, beschämt. Zwei Beine? Nicht selbstverständlich.
    Jede Mutter wird verstehen, dass auch ich ungeahnte Reserven mobilisierte, ohne zurückzublicken. Es hatte ja doch keinen Sinn. Meine Kinder standen am Anfang ihres Lebens. Und sie hatten ein Recht
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