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Himmel und Hölle

Titel: Himmel und Hölle
Autoren: Hera Lind
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Kuchenmeister. Wir haben Ihnen einen noch stärkeren Druckverband angelegt, damit keine weitere Hirnflüssigkeit auslaufen kann. Mithilfe der Schmerzmittel müssten Sie es schaffen, denn hier behalten können wir Sie ja nur in ohnmächtigem Zustand …«
    »Schmerzmittel machen süchtig«, sagte ich entschieden. »Ich schaffe das auch ohne.«

    Wie ich es geschafft habe, weiß ich nicht mehr.
    Vier Wochen später stand ich wieder in meiner Praxis. Von meiner Erkrankung war zu den meisten Patientinnen nichts durchgedrungen. Die Helferinnen hatten jede einzelne von ihnen vertröstet. »Die Zwillinge machen doch mehr Arbeit als gedacht, und die Frau Doktor möchte eine gute Mutter sein.« Die Patientinnen waren zunächst ein wenig gekränkt, dass sie wochenlang auf einen Termin warten mussten, doch dann wurde ich ihnen immer sympathischer: Wenn unsere Frau Doktor sich so gründlich und gewissenhaft um ihren Nachwuchs kümmert, wird sie das auch für unseren tun.
    Als ich endlich wieder auf wackeligen Beinen in der Praxis erschien, erklärte ich meine radikale Kurzhaarfrisur lapidar mit den Worten:
    »Bei vier kleinen Kindern ist es doch so viel praktischer! Ich habe einfach keine Zeit zum Föhnen! Die Zeit nehme ich mir lieber für meine Patientinnen!«
    Und dass ich dünn wie ein Strich in der Landschaft war, konnte ich ebenfalls begründen:
    »Stillen macht eben einen schlanken Fuß!«
    Schon wieder ein Pluspunkt. Die Frauen rannten mir die Bude ein. Wie durch ein Wunder lief die Praxis besser denn je! Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht herumgesprochen, dass die coole Frauenärztin wieder zurück sei. Zwar etwas dünn und klapprig, aber hoch motiviert! Und kein bisschen tot, wie böse Gerüchte bereits verbreitet hatten.
    Die Patientinnen standen schon morgens um acht
Schlange. Ich flitzte nur so zwischen Rezeption, Sprechzimmer und Behandlungszimmer hin und her. Hätte ich einen Kittel getragen, wären wohl wieder die Taschen eingerissen gewesen.
    »Gehen Sie schon mal rüber, ja? Brigitte zeigt Ihnen die Umkleidekabine.« - »Ja, die Eins ist jetzt frei. Machen Sie sich schon mal unten rum frei, in fünf Sekunden bin ich da.« - »Oh, das wird ein Junge. Ja, schauen Sie hier, das entscheidende Indiz…« - »Nein, Sie sollten wirklich sechs Monate stillen. Ihr Arbeitgeber ist verpflichtet, Ihnen dafür freie Zeit einzuräumen.« - »Brigitte, gib Frau Martin bitte mal ein Formular.« - »Natürlich, Frau Müller. Wo brennt’s denn? Beim Wasserlassen? Lassen Sie mich mal einen Abstrich machen.« - »Tja, junge Dame, du willst also die Pille. Wie alt bist du denn? Zwölf? Nun, dann rate ich dir, mit dreizehn noch mal wiederzukommen, und am besten bringst du deine Mutter mit…« - »Nun, schauen Sie, Frau Klett, in der linken Brust ist etwas zu fühlen, das gefällt mir gar nicht …«
    Meine Helferinnen arbeiteten fantastisch. Nach kurzer Zeit waren wir perfekt aufeinander eingespielt.
    Aber das Beste an dem ganzen Stress war, dass ich mein eigenes Elend vergaß. Ich hatte einfach keine Zeit, über mich selbst nachzudenken!
    Die Chemo ließ ich einfach sein. Ich glaubte so fest an Professor Aigners »ganze Arbeit«, dass ich mir das schlichtweg nicht mehr antat. Wie hätte das auch zeitlich noch gehen sollen? Und ich brauchte meine ganze Kraft für die Kinder. Für meine Patientinnen. Irgendwie
WUSSTE ich, dass ich es schaffen würde. Jetzt ging es nur noch bergauf. Es KONNTE nur noch bergauf gehen. Den absoluten Tiefpunkt hatte ich ja bereits hinter mir.
    An zwei Wochentagen arbeitete ich durchgehend von acht bis zwanzig Uhr. An meinen drei »kurzen« Arbeitstagen, die um zwölf Uhr endeten, warf ich mich in unseren neuen VW-Bus und holte die beiden Großen aus dem Kindergarten. Zu Hause warteten schon die Zwillinge, die inzwischen anfingen zu krabbeln. Nicole hatte alle Hände voll zu tun. Dann stellte ich mich an den Herd und schaffte es, jeden Tag wenigstens ein frisches Mittagessen für meine Sprösslinge zu zaubern. Nach der so abrupt abgebrochenen Stillzeit war es mir ein besonderes Anliegen, sie gesund zu ernähren.
    Anschließend wurde gespielt und gekuschelt - meine Kinder hatten ein solches Nachholbedürfnis an Nähe und Zuwendung! Das tat auch mir gut. Vielleicht wurde ich deshalb so schnell gesund. Liebe geben und Liebe bekommen - das älteste Allheilmittel in der Geschichte der Menschheit.
    Sobald die Kinder im Bett waren, fing ich an zu bügeln. Denn wenn man sich auf eine Falte konzentriert,
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