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Schneetreiben

Schneetreiben

Titel: Schneetreiben
Autoren: Sandra Gladow
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Prolog
    »Wach auf! Um Gottes willen, bitte, wach auf!«
    Carla spürte, wie zwei Hände sich an ihren Schultern festkrallten und sie heftig schüttelten. Sie war sofort hellwach.
    »Hanna, was …?«
    »Pssst!« Hanna presste Carla augenblicklich die Hand auf den Mund. »Sei leise«, zischte sie kaum hörbar und blickte sich gehetzt um. Durch den Spalt der angelehnten Schlafzimmertür fiel nur ein schmaler Lichtkegel. Carla schlug das Herz bis zum Hals hinauf, und die Angst, die sie in den Augen ihrer Zwillingsschwester lesen konnte, schnürte ihr die Kehle zu. Für einen Moment lang regten sie sich beide nicht, sondern lauschten auf den Flur hinaus. Carla lief ein kalter Schauer über den Rücken, denn im fahlen Mondlicht, das durch das Schlafzimmerfenster schien, sah das Gesicht ihrer Schwester nahezu gespenstisch aus. Hannas ganzer Körper zitterte, und das Haar fiel ihr wirr und strähnig in die Stirn. Sie bot in ihrem offenen Bademantel, unter dem ein nur notdürftig zugeknöpftes rosa Nachthemd hervorlugte, ein so hilfloses Bild, dass sich Carlas Herz zusammenzog.
    »Er ist im Haus«, wisperte Hanna, »ich schwör dir, er ist im Haus. Diesmal wird er mich umbringen. Vielleicht bringt er auch uns beide um, oder …«
    Carla griff nach Hannas eiskalten Händen und umschloss sie fest. Seit Monaten war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst.
    »Das ist unmöglich, Hanna!« Carla versuchte, ihrer Stimmeso viel Festigkeit wie möglich zu verleihen, und blickte Hanna direkt in die Augen. »Niemand ist im Haus. Hör doch, es ist ganz still.«
    »Eben habe ich ihn gehört«, wisperte Hanna. »Er ist hier, ich spüre es.« Wieder schaute sie sich um, als erwarte sie jeden Moment ihre Hinrichtung.
    Carla versuchte, die Geräusche der Nacht zu sondieren. Es hatte tagelang geschneit, und die Wiesen und Felder rund um das abgelegene Gehöft lagen unter einer weißen Decke aus Schnee begraben, die jeden Laut zu ersticken schien. Seit die Angst das Leben ihrer Schwester bestimmte, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, die schweren Vorhänge vor den Fenstern offenzulassen, und war jeden Morgen aufs Neue dankbar, wenn die Dämmerung hereinbrach und ein neuer Tag die Dämonen der Nacht vertrieb. Jetzt blickte sie hinaus auf die schweren Äste der gewaltigen Eiche, die sich unter dem Gewicht der Schneelast bogen und im grauen Licht des Mondes wie erstarrt wirkten.
    »Wovon redest du?«, flüsterte Carla ganz leise. »Wie sollte jemand – wie sollte er denn hier ins Haus gekommen sein? Die Alarmanlage ist eingeschaltet, und Smilla schlägt auch nicht an. Du hast geträumt.«
    »Ich irre mich nicht!« Hannas scharfe Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in Carlas Handflächen, und ihre Stimme überschlug sich fast. »Warum sollte der Hund anschlagen? Smilla kennt ihn. Ich habe gehört, dass da unten jemand ist. Ich glaube, das waren sogar Schritte – Schritte, Carla.« Hanna begann, leise zu weinen. »Wir müssen sofort die Polizei rufen.«
    Carla fasste Hanna jetzt bei den Schultern und zog sie so dicht zu sich heran, dass sich ihre Nasen fast berührten.
    »Hanna, du kannst nicht schon wieder die Polizei rufen. Jedes Mal war es falscher Alarm.«
    »Es war kein falscher Alarm«, zischte Hanna. »Uns ist doch beiden klar, dass er jeweils abgehauen ist, bevor sie ihn erwischt haben.« Ihr Atem ging stoßweise, und ihre Brust hob und senkte sich im schnellen Rhythmus der immer größer werdenden Angst.
    »Wir haben gerade erst alle Schlösser ausgetauscht, Hanna. Niemand wird uns heute Nacht umbringen und er schon gar nicht, hörst du.« Carla fuhr mit den Fingerkuppen über Hannas Stirn, die im Gegensatz zu ihren Händen glühend heiß war.
    »Lass uns ganz leise nach unten gehen und nachsehen. Ich bin sicher, du täuschst dich.«
    Hanna schien zu zögern, doch dann fischte sie plötzlich hinter ihrem Rücken einen Gegenstand hervor und legte ihn auf die Decke, direkt in Carlas Schoß. Carla brauchte einen Moment, um zu begreifen, was dort im diffusen Nachtlicht vor ihr lag. Sie starrte eine Weile ungläubig auf den schwarzen glatten Lauf der Pistole.
    »Hanna, bist du verrückt! Woher hast du die?«
    Hanna sprach kein Wort, sondern schaute Carla einfach nur aus ihren verzweifelten Augen an, und Carla erstarrte angesichts der Entschlossenheit, die sie jetzt darin erblickte.
    »Mein Gott!« Jetzt begann Carla, ihrerseits zu zittern.
    »Ich bringe ihn um, Carla! Ich halte das nicht mehr aus. Ich bringe ihn um, bevor er mich
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