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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London
Autoren: H Nesser
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Cembalospieler verließ das Ensemble, erneut wurde gestimmt, und kurz bevor das mir unbekannte Werk von Telemann begann, kam ein Herr und setzte sich auf den leeren Platz links von mir.
    Q 14. Er war lang und dünn. Dunkler, abgetragener Anzug, braungetönte Brille und zurückgekämmtes, leicht lockiges, graumeliertes Haar. Weißes Hemd ohne Krawatte. So zwischen fünfzig und sechzig. Was sein Aussehen betraf, war das alles, was ich mitbekam. Der leichte Duft eines einfacheren Rasierwassers umgab ihn, und er hatte eine kleine schwarze Aktentasche dabei, die er zwischen seine Füße auf den Boden stellte.
    Das ist alles, was ich über ihn sagen kann.
    Bei Telemann schlief ich ein. Ich wünschte, dem wäre nicht so gewesen, doch trotz der frischen Erinnerung an das Treffen mit Carla und meinem bohrenden Gefühl von Hyperrealismus war es mir unmöglich, die Augen offen zu halten. Ich erwachte vom Applaus, und es dauerte eine Sekunde, bis mir einfiel, wo ich mich befand. Der Cembalospieler kam in Begleitung eines Flötisten zurück. Ein erneuter, etwas matterer Applaus hieß die beiden willkommen. Ich schaute mich um. Die drei Frauen auf Q 16, 17 und 18 saßen noch da, kerzengerade, eine bot den anderen gerade Halstabletten aus einer Schachtel an, es handelte sich wohl um Fisherman’s Friend.
    Der Platz links von mir war leer. Q 14, der Mann mit dem abgetragenen Anzug und den grauen Locken, hatte seinen Platz verlassen. Er hatte auch seine Aktentasche verlassen. Sie lag flach auf der Bank, dort, wo er gesessen hatte, eine schwarze Ledergeschichte mit einigen Jahren auf dem Buckel, wie es aussah. Glänzende Metallbeschläge.
    Bei Vivaldis Sommer war er immer noch nicht zurück. Auch nicht in der folgenden Pause, und kurz bevor Pachelbel den zweiten Akt eröffnen sollte, fasste ich einen Entschluss. Ich nahm die Aktentasche und eilte aus der Kirche. Über den Trafalgar Square hatte sich bereits Dunkelheit gesenkt, aber das Menschengewimmel war möglicherweise noch dichter geworden, als es eine Stunde vorher gewesen war. Touristen, Hippies, eine Gruppe berittener Polizisten und der eine oder andere verirrte Londoner.
    Bevor ich mich zu meinem neuen Wohnsitz am Earl’s Court begab, hielt ich mich noch eine Weile in der Nähe des Platzes auf, an dem ich vorher gesessen hatte. Lauschte verschiedenen Straßenmusikanten und rauchte drei oder vier Zigaretten, aber keine Spur von Carla.
    Auch nicht von Q 14, und ich ahnte, dass ich ein Steinchen in einem Spiel war, von dem ich mir überhaupt keine Vorstellung machen konnte.

3

    I ch frühstückte allein. Ich hatte Maud aufgefordert, einen Spaziergang in Kensington Gardens und im Hyde Park zu machen, wo doch das Wetter so schön war, und sie war meiner Empfehlung gefolgt. Aber erst nachdem sie kontrolliert hatte, ob ich auch meine Medizin genommen hatte, manchmal verstehe ich ihre Beharrlichkeit in diesem Punkt nicht, ich habe nicht die Absicht, fahrlässig mit meiner verbleibenden Zeit umzugehen, indem ich bei den Tabletten nachlässig bin, in der Beziehung hat sie falsche Vorstellungen, aber in gewisser Weise gereicht ihr das auch zur Ehre.
    Ich verließ das Hotel kurz nach halb elf. Ging die Westbourne Grove Richtung Queensway entlang und kaufte mir eine Independent an einem Zeitungskiosk. Dann gönnte ich mir einen Cappuccino an einem Tisch auf dem Bürgersteig vor einem neuen italienischen Café an der Ecke zur Garway Road, während ich die Zeitung durchblätterte und eine Zigarette rauchte. Nur gut zwanzig Meter von dem Restaurant entfernt, in dem ich ein anderes Mal zu einer anderen Zeit gesessen hatte, es gibt es noch immer, doch darüber wird im Notizbuch berichtet, und ich schob den Gedanken beiseite. An diesem Morgen las ich stattdessen wieder über den »Uhrenmörder«; das Opfer draußen in Wimbledon Common war aller Wahrscheinlichkeit nach sein drittes gewesen, und in allen Fällen hatte die Polizei eine kaputte Armbanduhr am Handgelenk des Toten gefunden, es gab Anzeichen, die darauf hindeuteten, dass die Tatzeit identisch war mit dem Zeitpunkt, an dem die Uhr stehen geblieben war. Ich dachte, dass ich genau das vermissen würde: einen Kaffee, eine Zigarette und eine neue, interessante Tageszeitung – vormittags an einem Cafétisch auf einem Bürgersteig in einer Großstadt. Gibt es solche Winkel im Himmel? Können wir damit rechnen? Andernfalls können wir uns wohl die Mühe sparen, uns dorthin aufzumachen; nun ja, was mich betrifft, soll’s mir egal sein, aber
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