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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London
Autoren: H Nesser
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Umschlag selbst stand nichts. Kein Adressat, kein Absender. Ich zog die Lasche heraus. Holte eine Eintrittskarte heraus. Einfach gedruckt auf blassgelbes Papier, es ging um ein Konzert.
    Musik von Bach, Vivaldi, Pachelbel und Telemann, aufgeführt von einem deutschen Barockensemble. Die Wiedermeirische Sieben.
    Ort: die Kirche St. Martin-in-the-Fields, Trafalgar Square.
    Ich drehte den Kopf und schaute hinüber. Sie lag weniger als hundert Meter von dem Platz entfernt, an dem ich mich befand.
    Ich schaute auf die Uhr. Es sollte in zehn Minuten anfangen.
    Ich schreibe diese Aufzeichnungen fast zwölf Jahre später nieder, und vieles aus der Zeit, die einzufangen ich beschlossen habe, bevor es zu spät ist, erscheint mir in verschiedenster Weise als ein Hirngespinst und verschwommen. Doch dieser erste Abend, auf dem Trafalgar Square und später in der Kirche, steht mir wirklich immer noch detailgenau vor Augen. Wie die einführende Szene eines Films, währenddessen man noch hellwach und erwartungsvoll ist – oder wie die ersten Seiten eines Buches, von dem man nicht weiß, ob es überhaupt die Aufmerksamkeit wert ist, dem man jedoch anfangs seine volle Konzentration schenkt. Gerade um dem Ganzen eine Chance zu geben, nicht vorschnell zu urteilen. Oder etwas in der Art; es ist natürlich nicht wichtig, es ist eher so, dass ich über diese Klarheit selbst verwundert bin. Hier in einer ganz anderen Stadt so viele Jahre später.
    Doch genug davon. Der Kirchenraum war gut gefüllt, aber nicht vollbesetzt. Mein Platz befand sich ganz hinten rechts. Q 15, zwei Schritte in den Mittelgang hinein. Q 16, 17 und 18 waren von drei perfekt ondulierten Damen in den Siebzigern besetzt – während Q 14, der Platz direkt am Gang, leer war. Ich ließ mich in dem Moment auf der harten Holzbank nieder, als die Musiker hereinkamen und das Publikum ihnen verhalten applaudierte. Ein Kirchendiener schloss die Türen ganz hinten, aber ich konnte hören, dass der Verkehrslärm nicht vollkommen ausgesperrt wurde. Das Licht über den Zuschauern wurde ein wenig gedimmt, und die Musiker fingen an, ihre Instrumente zu stimmen.
    Ich hatte St. Martin-in-the-Fields schon früher besucht, aber hier noch nie ein Konzert gehört. Überhaupt war ich nicht besonders bewandert in klassischer Musik, aber auch kein absoluter Ignorant. Ein dünnes Programmheft verriet, dass sechs Werke aufgeführt werden sollten, von denen mir die Hälfte bekannt war: Bachs Brandenburgische Konzerte (Nummer zwei und Nummer vier) sowie eine von Vivaldis Jahreszeiten (der Sommer). Die Werke von Telemann und Pachelbel kannte ich nicht.
    Es begann mit einem der Brandenburgischen, ich weiß nicht, welchem, und bald befand ich mich in einem eigentümlich gespaltenen Zustand zwischen Schlaf und extremer Wachheit. Das Schlingernde, Kontrapunktische des Barock kann ja jeden schläfrig machen, ich habe mir manchmal eingebildet, dass genau das sowohl das Geheimnis als auch die Absicht dieser Musik ist – aber im Zusammenhang mit dem, was mir gerade eben draußen auf dem Trafalgar Square passiert war, erhielt die Schläfrigkeit einen fast surrealistischen Unterton. Ich hatte das Gefühl, in einem alten Schwarzweißfilm zu sitzen oder genauer gesagt in der Einspielung eines solchen Films – wieder so eine billige cineastische Assoziation, aber sie muss genügen –, eine Aufnahme, bei der der Regisseur seine Arbeit unterbrochen hat, um auf Toilette zu gehen, sich Zigaretten zu kaufen oder was auch immer, während die Kamera weiterläuft, obwohl das Skript ungelesen und unbearbeitet in den geräumigen Taschen des Meisters liegt, ja, Bilder dieser Art drängten sich mir tatsächlich auf, während ich auf der harten Bank saß, mit der Müdigkeit kämpfte und versuchte, mich an jedes Detail von Carla zu erinnern; die wenigen Details, die sie preisgegeben hatte, und dabei war zweifellos eines am stärksten: die leichte Berührung meiner Lippen durch ihren Zeigefinger. Ich weiß außerdem, dass ich während dieser ersten halben Stunde in der Kirche – bereits in dem Moment – begriff, was sie so radikal von meiner bisherigen Erfahrenswelt unterschied. Sie war die erste Frau. Alle meine früheren Beziehungen, es waren nicht so überwältigend viele gewesen, aber zumindest ein halbes Dutzend, die hatte ich mit Mädchen gehabt. Genau genommen wusste ich nichts über Carla, aber wer immer sie auch war, sie war kein Mädchen.
    Auf den Applaus nach dem ersten Werk folgte eine kurze Pause, der
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