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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London
Autoren: H Nesser
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Maud, die das Zentrum meiner Geschichte bildet; um diesen Punkt, diese imaginäre Nabe, zu finden, müssen wir noch weitere zwanzig Jahre in der Zeit zurückgehen, ja, genau genommen zweiundzwanzig. Zum September 1968, damals traf ich Carla, und jetzt, wo ich vor dem definitiven Ende des Buches stehe, weiß ich genauso klar und sicher wie die Herbsthimmel über Montana oder die Raben am Tower, dass es sich dabei um das alles überschattende Ereignis meiner Wanderung in diesem Jammertal handelt.
    Die bald ihr Ende finden wird, aber jetzt fällt mir der Stift aus der Hand und die Gedanken schweifen ab, ich sehe, dass Maud bereits das Licht in ihrem Alkoven gelöscht hat und es höchste Zeit für mich ist, es ihr gleichzutun. Auf jeden Fall bin ich dankbar dafür, dass wir so weit gekommen sind, bis ins Grenzland zwischen Bayswater und Notting Hill. Und ein anderes Grenzland, das deutlich häufiger besungen wurde, winkt um die Ecke.
    Keine Schmerzen, nur Müdigkeit und ein gewisser Druck auf der Brust.

2

Das gelbe Notizbuch
    T r afalgar Square.
    Es war der 5. September 1968. Ich hatte den Tag mit Umziehen verbracht – aus einem engen Verschlag in Shoreditch, ein paar Straßen von der Liverpool Street Station entfernt, in einen nicht ganz so engen Verschlag (und mit besseren Kochmöglichkeiten) in der Nähe von Earl’s Court –, und ich weiß nicht, was mich dazu bewogen hatte, zum Trafalgar Square zu gehen. Wahrscheinlich wollte ich dort jemanden treffen. Jemanden, der jedenfalls nie auftauchte, vielleicht hatte auch der Umzug, das Schleppen von Reisetaschen und Pappkartons drei steile Treppen hinauf längere Zeit in Anspruch genommen als gedacht, und ich hatte mich verspätet; vielleicht war jemand des Wartens müde geworden, ich kann mich nicht mehr erinnern. Auf jeden Fall saß ich dort auf der Balustrade, rauchte eine Zigarette, während ich die Tauben und Menschen betrachtete und den Lord oben auf seiner Säule. Es war ein schöner, angenehm warmer Herbstabend, kurz vor halb sieben.
    Lassen Sie mich auch feststellen, bevor das Schicksal seinen Lauf nimmt und nicht mehr aufzuhalten ist, dass ich achtundzwanzig Jahre alt war. Ich wohnte zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren in London; war das erste Mal – nach abgebrochenen akademischen Studien und abgeleistetem Militärdienst – im Juni 1965 hierhergekommen, und bis dato war es mir nicht gelungen, wieder fortzugehen. Es hatte kein Anlass dafür bestanden. London war in diesen späten Jahren der Sechziger die Weltmetropole überhaupt, daran bestand kein Zweifel. Ich wurde von ihr angezogen wie ein willenloses Insekt von einer herbstlichen Petroleumlampe, fing an, auf freiberuflicher Basis zu fotografieren und Artikel zu schreiben: Musik, Mode, Jugendrevolte, Politik, Pop-Art und was mir sonst so einfiel. Ein dreiseitiges Interview mit Arthur Brown für die International Times war bis jetzt der Höhepunkt gewesen, vielleicht in Konkurrenz zu einem zweiseitigen mit Bertrand Russell über den Vietnamkrieg für eine amerikanische Zeitschrift. Im Oktober 1967 hatte ich gemeinsam mit drei Gleichgesinnten, Christopher, Mary und Fjodor, so ein Undergroundkäseblatt gegründet, The Spiff , das entgegen allen Erwartungen bereits acht Nummern hinter sich hatte und bald sein einjähriges Jubiläum feiern sollte. Vielleicht war es sogar einer der anderen Spiffer, die ich an diesem Abend treffen sollte, wenn ich nicht zu spät gekommen wäre, aber noch einmal: das ist von untergeordneter Bedeutung. In wenigen Minuten sollte mein Leben sich von Grund auf verändern, ich drückte meine Zigarette aus und dachte an gar nichts. Oder vielleicht an die Beziehung zwischen Mary und Fjodor, das tat ich häufiger, ob es nicht bald an der Zeit war, dass sie ihn verließ und stattdessen mir eine Chance gab.
    Was in vielerlei Hinsicht eine Gnade wäre, aber kaum eine glückliche Wendung, was Spiffs Zukunft betraf. Vielleicht Marys auch nicht, ich weiß es nicht.
    Ein langbärtiger Jesusjünger mit runder blauer Lennonbrille und einem Kaftan, der nach Pferd roch, verließ seinen Platz auf der Balustrade gleich rechts von mir, nachdem er seine Bhagavad Gita zugeklappt hatte. Ich spürte, dass ich Hunger hatte, mir fiel ein, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, und ich wühlte in meinen Taschen, um den Kassenstand zu überprüfen.
    Aber so weit kam ich gar nicht, denn jetzt ging es los. Eine Frau kam schräg die Treppen herauf und blieb zwei Meter vor mir stehen. Sie
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