Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London
Autoren: H Nesser
Vom Netzwerk:
widerstrebend brummend in das Halbdunkel des Raumes führen.
    »Während du schläfst, werde ich einen kleinen Spaziergang im Viertel machen. All right?«
    All right. All right. Mögen die Engel dich in den Schlaf singen, Leonard Vermin.
    Worte, Worte.
    Bevor wir den 25. erreicht haben, habe ich noch einiges zu erledigen, das ist klar, aber an diesem ersten Abend begnügten wir uns mit einem einfachen Essen im Viertel. Bloody French , ein kleines Gasthaus an der Westbourne Grove, fast menschenleer, obwohl sie ein ausgezeichnetes Bœuf bourguignon und einen äußerst trinkbaren Merlot servierten. Maud drückte ihre Zufriedenheit mit dem Essen aus, war aber ansonsten ziemlich still. Ich versuchte sie mit der Geschichte vom abgetrennten Ohr und wie Portobello seinen Namen bekam zu unterhalten – und mit der Geschichte vom Mord an Whiteley; der weniger als hundert Meter von dort stattgefunden hatte, wo wir uns gerade befanden. Im Januar 1907, wenn ich mich nicht irre, der Mörder hieß Horace Rayner und behauptete, er wäre Whiteleys unehelicher Sohn, er entging um Haaresbreite dem Galgen, nachdem 180 000 Menschen eine Petition unterschrieben, in der sie darum baten, sein Leben zu verschonen – aber ich sah Maud an, dass nichts davon auch nur einen Funken von Interesse in ihr erwecken konnte. Eigentlich hatten wir in den letzten zehn Jahren keine Themen, über die wir uns hätten unterhalten können, und während wir auf den Käseteller warteten, den wir uns teilen wollten, kam mir in den Sinn, dass es nie, auch nicht in der ersten Zeit, irgendwelche tragfähigen Brücken zwischen uns gegeben hatte. Den Willen, sie zu bauen, den schon, diese positivistische Krankheit, aber wenn man lange genug auf einer Seite des Flusses gestanden hat, dann begreift man, dass es keinen Sinn hat, weiter zu rufen. Dann hält man lieber den Mund, dreht sich um und geht. Für einen Moment überlegte ich, ob ich ihr dieses Bild präsentieren sollte, manchmal habe ich das Gefühl, dass ich ihr so kurz vor dem Ende ein gewisses Maß an Aufrichtigkeit schuldig bin – aber ich ließ es bleiben. Die Aussichten, mich verständlich zu machen, sind gering, und es würde keinem anderen Zweck dienen als einer selbstgerechten Ehrlichkeit.
    Auch Alexander Herzen und Bakunin, die beide einige Jahre in diesem Viertel gelebt hatten, erwähnte ich mit keinem Wort. Maud hat sich nie für diese frühen Revolutionäre interessiert.
    Es ist ziemlich genau zwanzig Jahre her, seit wir uns das erste Mal begegneten, ich spreche jetzt von Maud und nicht von Herzen und Bakunin. Damals herrschte eine Niedrigwasserperiode in meinem Leben; ich hatte Michelle verloren, eine Frau, mit der ich den Rest meiner Tage zu verbringen nur zu gerne bereit gewesen wäre – und der Nächte natürlich auch (ganz besonders die Nächte, das gebe ich unumwunden zu). Ich war von ihrem Ehemann schwer verletzt worden, hatte zwei Monate im Krankenhaus gelegen, und auf Anraten des verantwortlichen Arztes (der mit zwei meiner guten Freunde, Justin und Tom, offenbar unter einer Decke steckte) willigte ich ein, mich in eine Therapie zu begeben. Es gab außerdem eine gewisse Suchtproblematik, ich stand kurz vor dem fünfzigsten Geburtstag, und es war wohl an der Zeit, einzusehen, dass das Leben nicht ewig währen würde.
    Maud war vierunddreißig Jahre alt, als ich an einem verregneten Montagnachmittag Mitte August ihre Praxis betrat. Ihre Methode nannte sich Kognitive Verhaltenstherapie, und als wir uns zur Begrüßung die Hände schüttelten, bekam ich einen Eindruck von ihr, wie ich ihn noch nie zuvor von einer Frau gehabt hatte. Ich kann dieses Gefühl nur schwer beschreiben, auch jetzt, nach zwanzig Jahren, nicht, aber mittlerweile denke ich, dass es seinen Grund in ihrer Mütterlichkeit haben muss. Da stand ich plötzlich einer Frau gegenüber, die mir anbot, sich um mich zu kümmern. Meine eigene Mutter, es ist mir klar, dass ich bisher noch kein Wort über meine Eltern oder meine Kindheit verloren habe, vielleicht hätte ich lieber damit anfangen sollen, aber ich habe nicht die Zeit, alles immer wieder neu zu strukturieren – meine eigene Mutter also, sie starb an Tuberkulose, als ich erst vier Jahre alt war, und das ist eine Tatsache, die zumindest von einer gewissen Bedeutung für meine Beziehung zu Maud gewesen sein muss. Sie füllte ein altes Vakuum, es wäre idiotisch, sich etwas anderes einzureden.
    Aber vielleicht komme ich noch darauf zurück. Es ist nicht die Begegnung mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher