Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London
Autoren: H Nesser
Vom Netzwerk:
schien in den Dreißigern zu sein, trug ein einfaches rotes Kleid und einen dünnen Mantel gleicher Farbe. Ihr Haar war dunkel, zu einem Pagenkopf geschnitten, und sie gehörte ebenso wenig in die Hippiewelt am Trafalgar Square wie ein Rubin in eine Shepard’s pie.
    Aber es war nicht ihre Schönheit, die mir den Atem raubte, sondern ihr Zögern und ihre offensichtliche Unschlüssigkeit. Sie war mitten im Gehen stehen geblieben, und jetzt schaute sie auf ihre Armbanduhr. Warf einen Blick zurück, auf die Löwen und den Springbrunnen, als wollte sie sich vergewissern, dass sie nicht verfolgt wurde. Oder dass sie verfolgt wurde. Einige Sekunden lang blieb sie stehen, suchte etwas in ihrer Handtasche, zuckte dann mit den Schultern und entdeckte den halben Meter Sitzplatz, der soeben neben mir frei geworden war. Sie begegnete meinem Blick.
    Ich nickte. Oder ich glaube, dass ich nickte. Auf jeden Fall versuchte ich sie auf irgendeine telepathische Art und Weise dazu zu bringen, herzukommen und sich zu setzen, ungefähr so interpretiere ich meine hochnervöse Passivität in diesen entscheidenden Sekunden. Dieses blanken, schicksalsträchtigen Augenblicks, zu dem es so selten im Laufe eines Lebens kommt, aber wenn doch, dann birgt er eine Art Schlüssel für alle vagen Fragen, die wir in uns tragen. Es passiert genau hier. Es passiert genau jetzt. Sie schaute sich erneut über die Schulter um, dann huschte ein kurzes, unsicheres Lächeln über ihr Gesicht, bevor sie sich auf dem von dem Jesusjünger geräumten Platz niederließ.
    »Hallo. Ich heiße Leonard.«
    Wie sonst hätte ich anfangen sollen? Als meine Identität zu präsentieren, frank und frei, dass ich ein selbstständiges Individuum in diesem Wirrwarr diffuser Existenzen war, es scharten sich wirklich ungewöhnlich viele Leute an diesem Abend um Trafalgar und Charing Cross … alles andere, ja, jeder andere Auftakt, jedes Preludium hätte in die falsche Richtung geführt. Das habe ich mir jedenfalls selbst eingeredet.
    »I am Carla.«
    Der Akzent. Osteuropa, soweit ich beurteilen konnte, aber es waren ja nur drei Worte. Ich streckte ihr meine Hand entgegen. Sie ergriff sie, ohne zu zögern, hielt sie einige Sekunden lang fest, während sie mich mit offenem Blick ansah. Der eigentlich nichts anderes als eine einzige Frage enthielt: Kann ich dir trauen?
    Ich bot ihr eine Zigarette an. Sie nahm sie entgegen, und ich gab uns beiden Feuer. Bis jetzt hatten wir einander nicht mehr als unsere Namen verraten. Unsere Vornamen. Leonard und Carla. Schweigend rauchten wir. Sie saß so dicht neben mir auf der Steintreppe, dass ich ihre Körperwärme an meinem rechten Arm spüren konnte. Während wir rauchten, hielten wir unsere Blicke auf die Menschen und die Tauben gerichtet. Der weite offene Platz und das Menschengewimmel boten an diesem angenehmen Spätsommerabend wirklich ein Schauspiel. Ein buckliger junger Mann spielte ein Stück von uns entfernt Gitarre und sang ein Donovan-Lied. Der Duft von Haschisch und anderen brennenden Gräsern kam und ging. Ein Mädchen in orangefarbener langer Hose und mit nacktem Oberkörper ging auf den Händen. Carla schaute erneut auf ihre Armbanduhr.
    »Will you help me?«
    Ich nickte. »Ich helfe dir gern. Was soll ich tun?«
    Sie schob die Hand in die Handtasche. Zog einen kleinen, hellgrauen Umschlag heraus. Hielt ihn einen kurzen Moment lang zwischen Daumen und Zeigefinger, dann reichte sie ihn mir. Ich nahm ihn entgegen und schaute sie fragend an. Sie holte tief Luft und betrachtete mich mit ernster Miene.
    »Please go.«
    Ich verstand nicht. Wie hätte ich es auch verstehen können? Ihre Augen wechselten zwischen grün und braun, wie ich jetzt sah, das rechte grüner als das linke. Ihren Mund hielt sie ein wenig geöffnet, nur wenige Millimeter, ich wartete, dass sie mehr erklären würde. Warf einen Blick auf den Umschlag, er war dünn und wog fast nichts.
    »Wobei soll ich dir helfen?«
    Mit einem Kopfnicken zum Umschlag hin wiederholte sie: »Please go.«
    Dann machte sie diese versiegelnde Geste, die auf gewisse Weise alles entschied. Sie drückte sich einen Zeigefinger auf die Lippen, legte ihn anschließend auf meine. Eine Berührung nur für den Bruchteil einer Sekunde, und trotzdem konnte ich diesen Finger am nächsten Morgen, als ich aufwachte, immer noch spüren.
    Sie hüpfte von der Balustrade hinunter. Richtete ihre Kleidung mit einer einfachen Handbewegung und eilte die Treppen hinunter, ohne sich umzuschauen.
    Auf dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher