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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London
Autoren: H Nesser
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nicht mehr geschafft habe, Sie zu retten, Mr. Selén.«
    Arthur McEvans, natürlich, mit dem er am gestrigen Abend diese nette Unterhaltung im Prince Edward geführt hatte. Und in den langgezogenen – geradezu zögernden und unschlüssigen – Sekunden, in denen das Bild des Kriminal-Intendenten verwischte und von Dunkel und einer Art Wirbel ersetzt wurde, konnte er hören, wie die Kirchenglocken einsetzten. Er dachte, dass es jedenfalls nicht die St. Matthew’s sein konnte, denn die Glocken dort zu reparieren, das würde noch einige Zeit dauern.
    Vielleicht spürte er auch, wie einige Regentropfen auf seinem Gesicht landeten, bevor sich alles auflöste, aber das kann auch Einbildung gewesen sein.

75

    I n Anbetracht dessen, was sich an diesem Abend ereignet hatte, beschloss Maud Miller, das Dessert im Terracotta Restaurant abzubestellen.
    Sie fasste diesen Entschluss allein, während die Glocken schläge noch aus dem hinteren Raum zu vernehmen waren, aber niemand protestierte. Schon gar nicht Oberkellner Barolli.
    Sie saßen noch am Tisch, auch der Tote, und Sekunden, nachdem der Oberkellner in der Küche verschwunden war und die zwölf spröden Schläge verklungen waren, geschah etwas.
    Es war nicht so einfach zu sagen, was es eigentlich war, aber es war das Gefühl einer intensiven, plötzlichen Abwesenheit.
    Sie warf Leonard, der natürlich in allerhöchstem Grad abwesend war, einen Blick zu – aber da war noch mehr. Etwas anderes, etwas im innersten Wesen anderes. Als sie vorsichtig, ohne wirkliches Interesse, die anderen musterte, sah sie bei allen das Gleiche. Ihre Gesichter hatten sich verändert, jeder Einzelne war geprägt von … einer Leere?, fragte Maud Miller sich. Von einem plötzlichen Verlust von etwas, das sie nicht begreifen konnte.
    Aber es spielt keine Rolle, dachte sie. Es ist nichts, worüber ich mir Sorgen machen müsste. Überhaupt fällt mir nichts mehr ein, was überhaupt noch eine Rolle spielt.
    Sie betrachtete ihre Hände und dachte, dass diese ebenso gut einem ganz anderen Menschen gehören könnten.
    Irina starrte auf die drei Gläser vor sich auf dem Tisch. Hier sitze ich und starre auf drei Gläser, dachte sie. Es ist eine Weile vergangen, seit ich gestorben wäre, wenn ich nicht auf den Rat aus einem Buch gehört hätte, das ich niemals wieder aufschlagen werde. Ich habe die Grenze überschritten. Ich habe endlich meinen großen Zusammenbruch gehabt, ich bin verrückt, aber es ist überhaupt nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe.
    Wobei ich auch nicht weiß, was ich mir eigentlich vorgestellt habe. Es erscheint nicht bedrohlich, und es erscheint nicht angenehm. Es fühlt sich nur leer an. Vielleicht habe ich mich ja mit meinem Schicksal versöhnt. Eins, zwei, drei … drei, zwei, eins.
    Eine Frage kreiste in Gregorius’ Kopf, aber er bekam sie nicht zu fassen. Vielleicht war es auch nur ein Surren ohne ein Fragezeichen dahinter, er wusste es nicht. Er dachte, dass er darüber nachdenken müsste, was man mit einem Sechstel einer Rugbymannschaft anstellt, aber er brachte es nicht über sich.
    Selbst derartige Überlegungen erfordern ein gewisses Maß an Energie, und zu so etwas hatte er keinen Zugang mehr.
    Nicht zu dem Ansatz eines Tropfens von Energie. Mein Leben ist ein verfluchter Luftballon gewesen, stellte er müde fest. Und jetzt ist ihm die Luft ausgegangen.
    Obwohl Notar Prendergast sein Monokel in die Westentasche gesteckt hatte, konnte er seinen alten toten Freund nicht aus den Augen lassen. Heute du, morgen ich, dachte er.
    Immer und immer wieder, wie eine alte Grammophonscheibe, die sich verhakt hatte.
    Heute du, morgen ich.
    Milos Skrupka hatte die Augen geschlossen. Er konnte sich immer noch nicht an die Namen seiner beiden Schwestern erinnern, aber da sie im Handumdrehen zu Halbschwestern reduziert worden waren, fand er das nicht mehr so dramatisch.
    Etwas ist soeben passiert, dachte er. Gerade eben, vielleicht kurz nachdem mein Vater gestorben ist, oder kurz davor. Etwas ist verschwunden, zurückgeblieben ist eine Leere.
    Vor ihm auf dem Tisch lag das gelbe Notizbuch. Eines Tages würde er es lesen, das wusste er, die Geschichte seines Vaters und seiner Mutter. Aber nicht jetzt, denn etwas war kaputt in seinem Kopf, und wenn es dort noch andere Gedanken geben sollte, dann bekam er sie jedenfalls nicht zu fassen.
    Aber warum sich darüber Sorgen machen? Seine Sorgen waren vorbei.
    In ihrem Bett daheim an der Ravenscourt Road lag Leya Yun Se und schlief, tief
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