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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London
Autoren: H Nesser
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fest am Arm gepackt hielt, es bestand kein Zweifel, dass sie gegen ihren Willen mit ihm ging, es war zu sehen, dass sie immer mal wieder versuchte anzuhalten, aber er war der Stärkere. Unbestreitbar der Stärkere; in regelmäßigen Abständen riss er hart an ihrem Arm, Lars Gustav Selén konnte spüren, wie Wut auf diesen bis jetzt noch anonymen Mistkerl in ihm aufstieg. Er zwang doch Carla tatsächlich zu etwas, was sie nicht wollte, etwas, was sie in keiner Weise wünschte, Lars Gustav konnte deutlich hören, dass sie sich stritten.
    Man kam zum Eingang des St. Mary’s Hospital und bog nach links in die Praed Street ein. Plötzlich wimmelte es von Menschen; Lars Gustav war sich nicht ganz sicher hinsichtlich der Geographie in diesem Stadtteil, aber wenn er sich nicht irrte, dann würden sie bald Paddington Station erreicht haben. Waren sie dorthin auf dem Weg?, fragte er sich. Zu einem Zug? Zur U-Bahn? Oder zu einer Wohnung?
    Und wer war der Mann? Er hatte kein richtiges Bild von ihm. Nur die dunkle Hose und ein weites weißes Hemd. Dunkles, kurz geschnittenes Haar. Carla trug eine gelbe Strickjacke und Jeans, er meinte die Strickjacke wiederzuerkennen, sich an sie aus dem Unterricht im Gymnasium zu erinnern, und ihr Haar trug sie genau wie vor zweiundvierzig Jahren, registrierte er außerdem, ja, insgesamt sah sie aus wie … wie aus dem Monat Mai 1968 ausgestiegen und in den Monat September 2010 hineingesprungen. Vielleicht war es auch der Monat Mai 1970, den sie verlassen hatte, schließlich hatte sie ja ihre Tage nicht weit von hier in dieser Stadt beendet – im Frühling, nicht im Herbst, aber er hatte keine Zeit, über derartige Spitzfindigkeiten nachzudenken, denn in diesem Moment bog das Paar unerwartet nach links ab. Er wusste nicht, warum es unerwartet war, doch es schien ihm so. Man wollte nicht zur U-Bahn-Station; die neue Straße hieß ganz einfach London Street, wie Lars Gustav auf einem Schild an einer Hauswand las. Dann bog man gleich wieder nach rechts ab und gelangte eine halbe Minute später auf die Spring Street, wo man ohne Vorwarnung im Halbdunkel zwischen einem kleinen indischen Restaurant und einem Friseursalon stehen blieb. Der Mann ließ Carlas Arm los, sie blieben einen Meter voneinander entfernt stehen, und er begann sie mit Beschimpfungen zu überschütten.
    Lars Gustav seinerseits blieb sieben, acht Meter entfernt hin ter einem Motorroller und einem Papierkorb stehen, und er konnte nicht hören, worum es sich bei den Beschimpfungen handelte. Aber dem Tonfall war zu entnehmen, worum es ging. Der Mann schimpfte in einem fort. Carla stand mit gesenktem Kopf, die Arme hingen seitlich herab, es sah fast so aus, als weinte sie. Nachdem sie ungefähr eine Minute lang die Schelte entgegengenommen hatte, legte sie eine Hand auf den weißen Ärmelarm des weißen Hemds und bat ihn, zu schweigen.
    Zumindest nahm Lars Gustav an, dass sie darum bat. Der Mann machte eine Pause und zündete sich eine Zigarette an. Lars Gustav schlich sich vorsichtig ein paar Meter näher, und jetzt konnte er ihre Stimme hören. Dieselbe Stimme wie 1969, dieselbe Stimme wie immer.
    »Ich will, dass du mich in Ruhe lässt«, sagte sie. »Bitte, Lenny, lass mich in Ruhe.«
    Das weiße Hemd zog zweimal an seiner Zigarette und sah sie höhnisch an. Jetzt konnte Lars Gustav auch sein Gesicht erkennen, und es war kein sympathisches Gesicht. Ganz im Gegenteil: dicht sitzende, stechende Augen, grobe Kiefer, breite, sybaritische Lippen und – wie gesagt – ein ekliger Gesichtsausdruck voller Hohn dazu. Er ließ die Zigarette in einem Mundwinkel hängen, stemmte die Hände in die Seiten und schüttelte den Kopf.
    »Du verdammte Hure«, sagte er.
    Das reichte. Das war das Zeichen. Lars Gustav Selén ging vier schnelle Schritte vor, ungefähr wie der Anlauf zu einem Bowlingwurf, holte alle Kraft tief unten aus den Zehen und landete eine glockenreine Rechte auf der Kinnspitze des weißen Hemds.
    Dieser fiel auf die Straße, als wäre er von einer Bombe getroffen worden. Oder von einem Balkon im achten Stock geworfen.
    Carla schlug sich die Hände vor den Mund und betrachtete ihn erschrocken. Sie betrachtete beide Männer, den liegenden und den aufrecht stehenden. Lars Gustav schlug sich auch die Hand vor den Mund, da es sich ziemlich anfühlte, als wären mehrere Knochen gebrochen.
    Doch der jähe Schmerz bedeutete nichts. Sie standen still da und schauten einander an. Die Straße war fast menschenleer, niemand schien bemerkt
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