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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London
Autoren: H Nesser
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zu haben, was vor sich gegangen war, und das weiße Hemd lag dort, wo es lag. Die Zeit verging, vielleicht zehn Sekunden, vielleicht zweiundvierzig Jahre. Er ließ ihren Blick nicht los, sie seinen nicht. Vom Himmel war ein dumpfes Grollen zu hören, eine erste Information darüber, dass es auch in dieser Nacht regnen würde.
    »Danke«, sagte sie schließlich. »Er hat genau das gekriegt, was er verdient hat.«
    »Ich bin froh, dass ich helfen konnte«, sagte Lars Gustav.
    »Ich wohne gleich hier um die Ecke«, sagte Carla, »aber ich glaube, eine Einladung wäre keine gute Idee.«
    »Das macht nichts«, sagte Lars Gustav. »Ich wollte nur für einen sicheren Heimweg sorgen.«
    »Danke«, wiederholte sie. Trat dicht an ihn heran und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Der war warm und herzlich, und der sollte für den Rest seines Lebens dort bleiben.
    Dann drehte sie sich um und verschwand durch die blaue Tür mit der Nummer 37.
    Das weiße Hemd begann sich auf dem feuchten Bürgersteig zu bewegen. Nach einigen Sekunden des Zögerns beschloss Lars Gustav Selén seinen unterbrochenen Weg zum Lords Hotel in Bayswater wiederaufzunehmen. Seine rechte Hand schickte ihm Schmerzwellen bis in den Ellenbogen, aber er sah es als ein Zeichen von Leben an.

72

    L eya verfluchte sich für ihre Unentschlossenheit.
    Ihr Zögern und ihre Trägheit. Im Nachhinein war ihr klar, dass sie natürlich anders hätte handeln müssen – schneller und entschlossener –, es war unverzeihlich, aber das Nachhinein macht einen Menschen selten glücklich.
    Als sie aus The Ox and the Plough gekommen war, hatte sie sofort die große Frau erblickt, war sich aber immer noch unsicher gewesen. Die Frau war vor einem ziemlich hell erleuchteten Schaufenster stehen geblieben und hatte etwas in ihrer Handtasche gesucht.
    Sollte diese Gestalt Richard sein?, fragte sie sich. Oder aber Karen? Was hatte sie dazu gebracht, so instinktiv zu reagieren? Jetzt stand sie in zehn Meter Entfernung, und während die Frau weiterhin in ihrer Tasche kramte, versuchte sie Zeichen zu entdecken, die darauf hindeuten könnten, dass es sich trotz allem um einen Mann handelte. Das Haar war dunkelbraun, ein Pagenkopf, das Gesicht konnte sie nicht sehen, aber vielleicht lag es an den großen Schultern und Armen, denen die natürliche Weichheit fehlte. Andererseits: Es gab genügend grob gebaute Frauen, besonders hier in diesem Land. Leya mit ihrem schmalen, asiatischen Körperbau traf fast täglich Kundinnen in der Bank, die sicher doppelt so viel wie sie selbst wogen – aber Gewicht und Größe waren natürlich nicht entscheidend.
    Die Person trug jedenfalls einen hellen Mantel, wahrscheinlich ein Kleid oder einen Rock darunter, da die Beine nackt waren, und dann solche Sportschuhe, die für alles zu benutzen waren.
    Richard, bist du das?, dachte sie, doch gerade, als sie ihr Zögern entschlossen weggeschoben und beschlossen hatte, einfach hinzugehen und nachzusehen – die Sache mit einer regelrechten Konfrontation zu klären –, da verließ sie/er das Schaufenster, ging mit schnellen Schritten zum zehn Meter entfernten Zebrastreifen und weiter über die Straße.
    Direkt aufs Terracotta zu.
    Ein oder zwei Sekunden lang fühlte Leya sich wie gelähmt. Die Frau/der Mann war bereits am Restauranteingang, als sie endlich in Bewegung kam. Sie kümmerte sich um keinen Fußgängerübergang, schaffte es mit heiler Haut auf die andere Straßenseite, zwischen bremsenden Autos hindurch und begleitet von einer Symphonie wütender Hupen – aber das dauerte weitere Sekunden, und die Frau/der Mann war inzwischen bereits hinter der schwach angeleuchteten, rot gebeizten Tür verschwunden.
    Es gab natürlich nichts, was gegen den Gedanken sprach, dass es sich immer noch um die vollkommen unschuldige Karen handeln konnte, sie war dort im Licht vor dem Schaufenster stehen geblieben, um – beispielweise – das gefundene Handy in ihrer Handtasche zu suchen. Doch dieser Gedanke und diese Möglichkeit konnten Leya nicht mehr bremsen, ihre Ambivalenz hatte sie schon viel zu lange aufgehalten, und sie brauchte nur einen Augenblick, um zur Tür zu gelangen und sie aufzureißen.
    Es war eine Art Garderobe. Geschlossene Türen links und rechts, der Speisesaal geradeaus. Dorthin waren die Doppeltüren geöffnet, die Frau/der Mann war einen Meter vor der Türöffnung stehen geblieben und drehte Leya den Rücken zu. Ein Kellner, vielleicht war es auch der Oberkellner, kam gerade aus der Tür
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