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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London
Autoren: H Nesser
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ich nicht wusste, wer da war, und er war innerhalb einer Sekunde in der Wohnung. Fing sofort an, auf mich einzuprügeln. Ich habe versucht, mich zu verteidigen, hatte aber keine Chance. Er wiegt hundert Kilo und hat bei der Olympiade in München eine Medaille im Ringen gewonnen. Griechisch-römischer Stil, Michelle hatte es mir erzählt. Zehn Jahre jünger als ich und gut durchtrainiert. Nachdem er mich bewusstlos geschlagen hatte, warf er mich vom Balkon.«
    Ich sah, dass meine Schilderung sie berührte. Möglicherweise übel, aber sie berührte sie. Ich bildete mir ein, dass das wichtig und grundlegend für unsere zukünftige Beziehung wäre, und konnte spüren, wie diese warme Mütterlichkeit mir entgegenströmte.
    »Der Staatsanwalt plädierte für Mordversuch beziehungsweise versuchten Totschlag«, fügte ich hinzu. »Aber es blieb dann bei schwerer Körperverletzung.«
    »Welches Stockwerk?«, fragte sie.
    »Viertes. Ich bin in einem Gebüsch gelandet. Sonst würde ich nicht hier sitzen.«
    Sie notierte sich etwas. Ich überlegte, was das wohl sein konnte, fragte aber nicht.
    »Aber jetzt sind Sie wieder gesund?«
    »Im Großen und Ganzen, ja. Nur um meine psychische Verfassung ist es schlechter bestellt.«
    »Können Sie mir das erklären?«
    Das konnte ich, ich hatte es morgens bereits einstudiert.
    »Ich verhalte mich anderen Menschen gegenüber nicht so, wie man das tun sollte. Wenn ich Frauen kennen lerne, dann verliebe ich mich leidenschaftlich in sie oder aber sie bedeuten mir gar nichts. Ich habe keine Freunde. Ich habe keine Familie und habe nie eine gehabt.«
    »Aber haben Sie nicht gesagt, dass es zwei gute Freunde waren, die Sie dazu gebracht haben, hierherzukommen?«
    »Zwei Geschäftsfreunde. Das war ungenau ausgedrückt. Aber vor allem lag es an diesem Hirnklempner.«
    Sie las etwas von einem Zettel ab. »Justin und Tom?«
    »Ja.«
    »Wenn wir jetzt ein wenig weiter in die Vergangenheit gehen. Wie war Ihre Kindheit?«
    Ich saß einige Sekunden lang schweigend da und versuchte einen treffenden Ausdruck zu finden.
    »Gefühlsarm«, sagte ich.
    »Führen Sie das bitte aus.«
    Ich seufzte und führte es aus. »Meine Mutter starb an Tuberkulose, als ich vier Jahre alt war. Mein Vater war Pfarrer und heiratete nie wieder. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er jemals gelacht oder mich berührt hätte. Nach dem Abitur bin ich zu Hause ausgezogen. Er starb ungefähr zwanzig Jahre später. Das ist alles.«
    »Das klingt traurig.«
    »Nur wenn man dran denkt.«
    »Und das tun Sie nicht?«
    »Nein.«
    »Und wie ist es mit dem Sohn des Pfarrers? Hat er eine längere Beziehung gehabt?«
    »Nein.«
    »Eine Zeitlang mit einer Frau zusammengelebt?«
    »Nein.«
    »Nur kürzere Affären?«
    »Ja.«
    »Viele?«
    »Ja.«
    »Was glauben Sie, woran das liegt?«
    »Ich bin ein amoralischer Dreckskerl. Ich trinke zu viel und habe keine emphatischen Fähigkeiten.«
    »Das klingt, als würden Sie aus einem Buch vorlesen.«
    »Ich kann nichts dafür, wenn es so klingt.«
    »Okay. Sie sagen, Sie haben ein Alkoholproblem?«
    »So langsam glaube ich das.«
    »Wieso?«
    »Als ich im Krankenhaus lag, habe ich zwei Monate lang nicht einen Tropfen getrunken, aber das Erste, was ich getan habe, als ich nach Hause kam, war, mich besinnungslos zu besaufen. Und zwei Abende später habe ich es noch einmal gemacht. Das war vorgestern.«
    »Ganz allein?«
    »Ganz allein.«
    »Warum?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Aber sicher wissen Sie es.«
    »Ja, sicher weiß ich es.«
    So machten wir weiter. Zwei Stunden die Woche. August, September, Oktober, November, Dezember. Mitte Januar beschlossen wir, die Therapiesitzungen abzubrechen. Zwei Monate später, also im März 1991, willigte sie zum ersten Mal ein, mit mir essen zu gehen. Um Mittsommer herum begann unsere Beziehung, und im August verbrachten wir eine Woche zusammen in Griechenland. Ihr ehemaliger Mann kümmerte sich um die beiden Kinder. Ich war nicht leidenschaftlich verliebt, und das fand ich äußerst angenehm.

5

Milos
    A ls Jaroslav Skrupka schließlich starb, widmete sein einziger Sohn zehn Tage dem Versuch, zu trauern.
    Das war im Herbst 2002, ein Jahr, nachdem das World Trade Center in Schutt und Asche gelegt worden war und die Welt ein hässlicheres Gesicht bekommen hatte. Milos war siebenundzwanzig Jahre alt und hatte soeben sein Studium an der NYU beendet. Seine Fächer waren Internationale Ökonomie mit Schwerpunkt auf Asien, Wirtschaftsgeschichte (ohne besonderen
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