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Brunetti 03 - Venezianische Scharade

Brunetti 03 - Venezianische Scharade

Titel: Brunetti 03 - Venezianische Scharade
Autoren: Donna Leon
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    D er Schuh war rot, rot wie Londoner Telefonhäuschen oder New Yorker Feuerwehrautos, aber diese Vergleiche kamen dem Mann, der den Schuh als erster sah, nicht in den Sinn. Er dachte vielmehr an das Rot des Ferrari Testarossa auf dem Kalender im Umkleideraum der Fleischer, wo sich eine nackte Blondine auf dem Kühler räkelte und leidenschaftlich den linken Scheinwerfer zu vernaschen schien. Der Schuh war wie betrunken zur Seite geneigt, die Spitze dicht an einer der Öllachen, die wie ein nässender Ausschlag das Gelände hinter dem Schlachthof bedeckten. Er sah ihn da liegen, und natürlich dachte er auch an Blut.
    Auf irgendeinem Weg war Vorjahren die Erlaubnis zum Bau des Schlachthofs erteilt worden, lange bevor Marghera zu einem führenden Industriezentrum Italiens aufblühte, (obgleich »aufblühte« hier vielleicht nicht ganz das passende Wort ist) und bevor die Ölraffinerien und Chemiefabriken sich auf dem sumpfigen Gelände breitmachten, gegenüber der Lagune von Venedig, Perle der Adria. Der flache Betonbau duckte sich blutrünstig hinter einen hohen Maschendrahtzaun. War dieser Zaun ganz zu Anfang errichtet worden, als man das Vieh noch durch die staubigen Straßen zum Schlachthof treiben konnte? War er ursprünglich dazu gedacht, die Tiere an der Flucht zu hindern, bis sie auf die Rampe geführt, getrieben, gepeitscht wurden, wo sie der Tod erwartete? Heute brachte man sie in Lastwagen, die rückwärts direkt an die mit einem Gitter eingefaßten Rampen fuhren, und es gab kein Entweichen mehr. Menschen wollten diesem Gebäude sowieso nicht zu nahe kommen, so daß der Zaun kaum nötig war, um Unbefugte fernzuhalten. Vielleicht wurden darum seine Löcher auch nicht geflickt. Bisweilen schlüpften nachts streunende Hunde hindurch und heulten voll Verlangen nach dem, was sie dort witterten.
    Rund um den Schlachthof war Ödland, als fürchteten selbst die Fabriken das Blut. Sie hielten Abstand von dem niedrigen Betonbau, ihre tödlichen Ausflüsse dagegen sickerten rückhaltlos in den Boden und kamen dem Schlachthof jedes Jahr näher. Schwarzer Schlamm blubberte zwischen dem Marschgras, und ein regenbogenfarbener Ölfilm bedeckte Pfützen, die nie verschwanden, wie trocken die Jahreszeit auch sein mochte. Die Natur hier draußen war vergiftet, doch das schreckte die Menschen weniger als das, was drinnen vorging.
    Der Schuh, der rote Schuh lag umgekippt etwa hundert Meter von der Rückseite des Schlachthofs entfernt gleich hinter dem Zaun, links neben einem hohen Büschel Sumpfgras, das in den Giftstoffen um seine Wurzeln besonders gut zu gedeihen schien. Gegen halb zwölf an diesem heißen Montagmorgen im August stieß ein vierschrötiger Mann in blutgetränkter Lederschürze die Metalltür an der Rückseite des Schlachthauses auf und trat in die sengende Sonne. Er wurde von einer Welle feuchtheißer Luft, beißendem Gestank und lautem Geheul begleitet. In der Sonne spürte man kaum eine Abkühlung, aber wenigstens war der Gestank der Innereien hier weniger stechend, und der Lärm rührte nicht mehr von dem Brüllen und Kreischen her, das den Raum hinter ihm erfüllte, sondern von dem einen Kilometer entfernten Verkehr, den die zum Ferragosto nach Venedig strömenden Touristenmassen verursachten.
    Der Mann wischte seine blutige Hand an der Schürze ab, wobei er sich bückte, um einen trockenen Zipfel zu finden, griff dann in seine Hemdtasche und zog ein Päckchen Nazionali heraus. Mit einem Plastikfeuerzeug zündete er sich eine Zigarette an und sog gierig den Rauch ein, froh über den Geruch und den scharfen Geschmack des billigen Tabaks. Ein tiefes Geheul drang hinter ihm durch die Tür und trieb ihn Richtung Zaun, wo das kümmerliche Blätterdach einer Akazie, die sich zu etwa vier Meter Höhe hochgekämpft hatte, Schatten versprach.
    Dort stand er, wandte dem Schlachthof den Rücken zu und betrachtete den Wald aus Schornsteinen bei Mestre. Aus einigen schössen Flammen, aus anderen quollen graugrüne Rauchschwaden. Eine leichte Brise, zu schwach, um sie auf der Haut zu fühlen, trieb die Wolken auf ihn zu. Er zog an seiner Zigarette und schaute auf den Boden zu seinen Füßen, wie immer hier in den Wiesen achtsam, wohin er trat. Er blickte nach unten und sah jenseits des Zaunes den umgekippten Schuh liegen.
    Er war aus Stoff, dieser Schuh, nicht aus Leder. Seide? Satin? Bettino Cola kannte sich da nicht aus, aber er wußte, daß seine Frau ein ähnliches Paar Schuhe besaß und über hunderttausend Lire
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