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HHhH

HHhH

Titel: HHhH
Autoren: Binet Laurent
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entsetzlich kompliziert. Die Verteidiger müssen jetzt ohne ihren behelfsmäßigen Teleskoparm zurechtkommen, und von allen Seiten strömt Wasser in ihren Bunker herein, in dem ihnen das Wasser bald im wörtlichen wie im übertragenen Sinn bis zum Hals stehen wird. Ab dem Zeitpunkt, zu dem die SS-Leute sich zwei Zugänge erschlossen haben und zudem Gefahr vom Lichtschacht ausgeht, ist den Fallschirmspringern klar, dass dies das Ende ist. Sie wissen, dass sie geliefert sind. Sie beenden das Graben, wenn sie es nicht schon längst getan haben, um sich ganz aufs Schießen zu konzentrieren. Pannwitz befehligt eine neue Angriffswelle durch den Haupteingang, während gleichzeitig Granaten in die Krypta geworfen werden und ein weiterer Mann versucht, durch die Falltür einzusteigen. Drinnen feuern die Sten, was das Zeug hält, um die Angreifer zurückzudrängen. Es herrscht vollständige Verwirrung, es geht zu wie im Fort Alamo, es dauert und dauert, hört einfach nicht auf, kommt von allen Seiten, über die Falltür, über die Treppe, den Lichtschacht, und während die Granaten ins Wasser fallen, ohne zu explodieren, entleeren die vier Männer ihre Magazine auf alles, was sich bewegt.
    18. Juni 2008. Sie sind beim letzten Magazin angekommen, so etwas bemerkt man sehr schnell, wie ich annehme, selbst im Eifer des Gefechts. Die vier Männer brauchen nichts zu sagen. Ich bin sicher, dass Gabčik und sein Freund Valčík sich anlächeln, ich sehe sie vor mir. Sie wissen, dass sie sich gut geschlagen haben. Um zwölf Uhr ertönen vier gedämpfte Schüsse im allgemeinen Waffengetöse, das auf der Stelle abbricht. Schließlich legt sich wieder Stille wie ein Leichentuch über Prag. Auf Seiten der SS halten alle inne, niemand wagt, zu schießen oder sich auch nur zu bewegen. Man wartet ab. Pannwitz ist völlig erstarrt. Er gibt einem SS-Offizier ein Zeichen. Der kommandiert daraufhin zögerlich und nicht annähernd so männlich selbstsicher, wie es sein Rang eigentlich gebietet, zwei seiner Männer ab, nachzusehen. Vorsichtig steigen sie die ersten Stufen hinab und bleiben stehen. Wie zwei kleine Jungen drehen sie sich zu ihrem Kommandanten um, der ihnen bedeutet, weiterzugehen. «Weiter, weiter!» Alle, die in der Kirche anwesend sind und das Geschehen beobachten, schauen ihnen mit angehaltenem Atem zu. Sie verschwinden in der Krypta. Ein paar endlose Sekunden verstreichen, dann ertönt wie aus dem Jenseits eine deutsche Stimme. Mit dem Revolver in der Hand stürmt der Offizier vor und die Treppe zur Krypta hinab. Er kommt zurück, seine Hose ist bis zu den Oberschenkeln durchnässt, und ruft: «Fertig!» Auf dem Wasser treiben vier Leichname: Gabčik, Valčík, Švarc und Hrubý, die sich selbst getötet haben, um ihren Feinden nicht in die Hände zu fallen. Dazwischen schwimmen ein paar Gegenstände: ein Spiritusbrenner, Kleidungsstücke, Matratzen, ein Buch. Blutspritzer auf den Mauern, auf der Holztreppe eine Blutlache (immerhin stammt diese von einem Deutschen). Überall Patronenhülsen, aber keine einzige Patrone: Die jeweils letzte haben sie für sich selbst aufgehoben.
    Es ist Mittag. Das Aufgebot aus siebenhundert Männern der Waffen-SS und Gestapo brauchte fast acht Stunden, um mit den sieben Männern fertig zu werden.

251
    Meine Geschichte neigt sich dem Ende entgegen, und ich empfinde ein Gefühl der Leere. Nicht nur völlige Erschöpfung, sondern tiefe Leere. Ich könnte an dieser Stelle aufhören, aber in diesem Fall läuft es nicht so. Die Menschen, die in dieser Geschichte eine Rolle gespielt haben, sind schließlich keine Romanfiguren; und sollten sie es durch meine Schuld geworden sein, möchte ich sie zumindest nicht so behandeln. Schweren Herzens werde ich, ohne daraus Literatur zu fabrizieren, zumindest habe ich es nicht vor, erzählen, was aus denjenigen geworden ist, die den Mittag des 18. Juni 1942 überlebten.
    Wenn ich Nachrichten gucke, die Zeitung lese, mich mit Leuten treffe, mich im Kreise meiner Freunde und Bekannten bewege und beobachte, wie ein jeder von ihnen kämpft und, so gut er kann, die Absurditäten des Lebens meistert, kann ich nicht umhin zu denken, wie lächerlich es in der Welt doch zugeht, wie ergreifend und grausam. Mit diesem Buch ist es ähnlich: Die Geschichte ist grausam, die Protagonisten sind ergreifend, und ich bin lächerlich. Aber ich bin in Prag.
    Ich bin zum letzten Mal in Prag, das sagt mir meine Vorahnung. Die steinernen Phantome, die die Stadt bevölkern, umgeben mich
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