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Hexennacht

Hexennacht

Titel: Hexennacht
Autoren: Michael Siefener
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die vorgelegten
Fensterläden, das wispernde Efeu vor den Scheiben, die dichten,
unnatürlich schwarz erscheinenden Schatten im ganzen Haus, das
bisweilen knackte und knisterte, als läge es ebenfalls im
Sterben. Die spärliche Beleuchtung legte Risse in den alten
Wänden frei und der Stuck bröckelte von der Decke. Die
ehemals hochherrschaftlichen Räume waren nur ein Schatten ihrer
selbst, doch es würde nicht viel Mühe kosten, ihnen ihren
früheren Glanz wiederzugeben. Und was war mit ihm selbst? Auch
die Räume seines Innersten, die einmal in der Gegenwart Gottes
geglänzt hatten, waren baufällig, waren verwüstet,
waren verwaist. Dunkelheit herrschte darin.
    Nach der abgebrochenen Messe waren aufgebrachte Gemeindemitglieder
auf ihn zugestürmt und hatten ihn mit Fragen und Vorwürfen
bedrängt, und einige besonders Fromme hatten ihn sogar
beleidigt. Es würde nicht lange dauern, bis die Nachricht von
seinem Verhalten ins bischöfliche Palais drang. Man würde
ihn zum Gespräch laden. Bis dahin wollte er keine Messe mehr
feiern; das konnte Franz Bomberg, der junge, aufstrebende Kaplan tun,
der ihn sowieso nicht leiden mochte. In ihm war alles leer.
    So leer wie dieses Haus. Und so dunkel. Wenn er sich gefunden
hatte, wenn es wirklich so dunkel in ihm war, dann gab es für
ihn keinen Grund mehr weiterzuleben.
    »Aber natürlich werden Sie weiterleben. Sie werden noch
vielen Menschen Gutes tun«, sagte die alte Vonnegut, als habe
sie seine Gedanken gelesen.
    Erstaunt schaute er sie an.
    »Manche meiner lieben Mitmenschen glauben, ich bin eine
Hexe«, sagte sie. Es klang gepresst. Sie schien schwer gegen die
Schmerzen anzukämpfen. »Manche sagen, ich kann Gedanken
lesen. Und manche glauben, ich stehe mit dem Bösen im Bunde. Das
ist schon seit der Schulzeit so. Meine Augen sind mir zum
Verhängnis geworden – immer wieder. Was liegt da
näher, als irgendwann einfach dem Bild zu entsprechen, das sich
die anderen von einem machen? Also bin ich zur Hexe geworden.
Für die Welt und für mich.« Sie stieß einen
Seufzer aus. Die zweite Katze sprang ihr auf den Bauch. Die alte Frau
zuckte zusammen. »Das siehst du ebenfalls so, Salomé,
oder?«
    Wie konnte sie die Tiere auseinander halten? Arved sah nur
schwarze Fellbündel und grüne Augen; die eine Katze war das
Spiegelbild der anderen.
    »Nein, nein, sie sind ganz unterschiedlich«, sagte die
alte Frau und streichelte die beiden Tiere. »Außerdem hat
Lilith ein paar ganz feine silberne Härchen am Hals. Man muss
schon genau hinsehen. Was wollen Sie jetzt tun?«
    »Ich weiß es nicht. Man wird mich zu einem
Gespräch bestellen.«
    »Zu einem Verhör.«
    »Man wird mir nahe legen, mich in psychiatrische oder
psychologische Behandlung zu begeben. Und wenn auch das nichts
nützt…«
    »Wird es etwas nützen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Lydia Vonnegut bäumte sich auf. Die beiden Katzen sprangen
fast lautlos von ihr herunter. »Es wird nichts nützen! Sie
sind verloren!« Mit einem tiefen Seufzer fiel sie zurück
auf die Laken. Sie regte sich nicht mehr.
    Arved sprang auf und beugte sich zu ihr herunter. Verängstigt
legte er das Ohr an ihren Brustkorb. Bisher war es ihm gelungen, noch
nie einen Menschen sterben zu sehen. Ihr Herz schlug noch. Nun atmete
sie auch wieder. Eigentlich tat sie Arved Leid. Sie hatte aufgrund
ihrer körperlichen Besonderheit viel zu leiden gehabt und war
immer eine Außenseiterin gewesen. Doch gleichzeitig spielte sie
diese Rolle sehr gern; sie ging darin auf und war zum Zerrbild ihrer
selbst geworden.
    Die beiden Katzen waren auf das Fußende des ausladenden
Empire-Bettes gesprungen und saßen dort wie zwei
Ebenholzstatuen. Wie Seelenwächter. Oder wie
Seelenfänger.
    Arved warf ihnen einen bösen Blick zu, doch sie rührten
sich nicht. Sie schienen ihn genau zu beobachten. Nun war Lydia
Vonnegut eingeschlummert; sie atmete tief und regelmäßig.
Seit Tagen hatte sie vor Schmerzen nicht mehr geschlafen; Arved war
dankbar dafür, dass sie nun endlich ein wenig Ruhe fand. Er
wagte nicht, sie zu verlassen, denn er wollte nicht, dass sie wieder
allein war, wenn sie erwachte. Er sah es als seine seelsorgerische
Pflicht an, diese alte, verhärmte, vergrämte, einsame,
böse gewordene Frau in den Tod zu begleiten – in einen Tod,
der ihr nicht einmal ein ewiges Leben versprach.
    Oder sollte er einfach gehen und nie wiederkommen? Sich
öffentlich für seine Predigt und die abgebrochene Messe
entschuldigen, eine Therapie machen, vielleicht im
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