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Hexennacht

Hexennacht

Titel: Hexennacht
Autoren: Michael Siefener
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sich bei der
Erinnerung an Lydia Vonnegut eingeschlichen hatten. »Verzeihen
Sie, ich hatte geglaubt, Sie hätten ›Die Nacht des
Satans‹ gesagt.«
    Der Novize lachte kurz und herzlich auf. »Oh, ich
fürchte, da sind mir meine gelegentlichen Selbstgespräche
zum Verhängnis geworden. Ich hatte ›Wie macht man so
was?‹ gebrummelt, weil ich noch nicht weiß, wie ich mit
dem Staubwedel an die hohen Fensterbänke kommen soll.
    Morgen muss ich nämlich weiter fegen. Ein Gutes hat’s:
So lerne ich meine Kirche besser kennen.« Er schaute hoch zu den
Fenstern, die nichts als schwarze Löcher vor dem erhellten
Innenraum waren. »Aber es ist nur allzu verständlich, dass
Sie mich derart missverstanden haben. Gerade heute Nacht.«
    Er wollte schon weitergehen, doch Arved sagte schnell: »Wie
meinen Sie das? Was ist mit der heutigen Nacht?« Er sah den
Novizen verständnislos an.
    »Wissen Sie das denn nicht? Heute ist Walpurgisnacht. Heute
ziehen nach dem Volksglauben die Hexen, Teufel und Gespenster umher.
Es ist eine Hexennacht.« Er ließ Arved stehen und
verschwand durch den Haupteingang im Westwerk.
    Ob damit die seltsamen Taten der Bewohner von Großlittgen
und Minderlittgen in Zusammenhang standen? Unwillkürlich musste
er wieder an Lydia Vonnegut denken. In ihren letzten Tagen war sie
ihm immer mehr wie eine Hexe erschienen. Als der Tag ihres Todes
gekommen war und sie spürte, wie ihre Kraft versickerte, schrie
sie vor Entsetzen auf. Sie schien seltsamerweise keine Schmerzen mehr
zu haben, aber nun kam doch die Angst. Die starke Frau, deren
Todesweg Arved über ein Jahr lang begleitet hatte, kreischte wie
ein kleines Kind, das sich dem Schwarzen Mann gegenübersieht.
»Da steht er!«, brüllte sie mit letzter Kraft.
»Da steht er!« Dabei zeigte sie in die dunkelste
Zimmerecke.
    Arved hatte tatsächlich geglaubt, dort stehe jemand. Es war
ein schwarzer Umriss, nicht größer als sie selbst –
starr, schweigend, unerschütterlich. Wartend.
    Als sie sich ein letztes Mal aufbäumte, stieß sie einen
durchdringenden Schrei aus. Die beiden Katzen setzten sich vor ihr
Bett und schauten in die dunkle Ecke. Sie waren starr, schweigend und
unerschütterlich. Ein Luftzug wehte plötzlich durch den
Raum. Dabei war weder die Tür noch ein Fenster geöffnet.
Der Schatten war verschwunden.
    Arved verließ die Kirche. Walpurgisnacht. Er glaubte nicht
an solche Dinge. Er glaubte an gar nichts mehr. Aber er wollte nicht
zurück in sein finsteres Haus. In Lydia Vonneguts Haus.
    Er war sehr erstaunt gewesen, als er eine Woche nach ihrem Tod
eine Nachricht von ihrem Notar erhielt. Arved hatte der kargen
Beerdigungszeremonie als Einziger beigewohnt, bei der die Asche der
alten Frau von einem Bestattungsunternehmen ohne jegliche Ansprache
in die Mosel geschüttet worden war. Nicht einmal Else hatte sich
blicken lassen; sie tauchte nie wieder auf. Ihr Notar machte keinen
Hehl daraus, dass er die alte Frau abscheulich gefunden hatte. Sie
hatte Arved Winter – als Dank für seine mutige Predigt und
zur Ermunterung, seinen gottlosen Weg weiterzugehen – ihr
gesamtes Vermögen, das sich auf mehrere Millionen Euro belief,
sowie ihr Haus und ihren Bentley vermacht, allerdings unter der
Auflage, gut für Salomé und Lilith zu sorgen, was
vierteiljährlich durch einen benannten Tierarzt zu
überprüfen war. Arved hatte nicht gewusst, ob er lachen
oder weinen sollte. Nun war er mit einem Schlag all seine
existentiellen Sorgen los, in die er sich durch seine Zweifel und
Ungläubigkeit selbst gestürzt hatte, aber er musste in das
unheimliche Haus einziehen, denn wohin hätte er sonst gehen
sollen und für die nicht minder unheimlichen Katzen sorgen?
    Als er an diese Katzen dachte, lief es ihm kalt den Rücken
herunter. Er fütterte sie jeden Tag, hatte sich mit dem im
Testament benannten Tierarzt in Verbindung gesetzt und sich von ihm
Ratschläge zum Füttern und zum Umgang mit den Tieren geben
lassen, aber sie blieben ihm gegenüber vollkommen unnahbar. Sie
ließen sich nicht streicheln, nicht rufen, nichts befehlen. Sie
kamen nicht einmal, wenn er mit der Futterdose raschelte. Jeden Abend
stellte er zwei Näpfchen in die Küche und jeden Morgen
waren sie leer. Manchmal sah er die beiden schwarzen Schatten am
Rande seines Blickfeldes über die Treppe oder durch eines der
vielen moderigen Zimmer huschen, doch nur selten zeigten sie sich ihm
in aller Deutlichkeit.
    Arved Winter ging tief in Gedanken zurück zu seinem Wagen und
fuhr weiter
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