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Eisblut

Eisblut

Titel: Eisblut
Autoren: Marina Heib
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Tag 1: Samstag, 28. Oktober
    Schorsch hat einen guten Tag gehabt. Drei Stunden lang
konnte er auf dem Jungfernstieg betteln, dann erst haben ihn die Wachmänner der
Geschäftsleute vertrieben. Eine schöne Summe ist da zusammengekommen, und er
hat sie gut angelegt. Nein, nicht für Essen, das hat er sich aus der Mülltonne
bei Burger King in der Mönckebergstraße geholt. Die Kohle hat er in Grundnahrungsmitteln
angelegt: Bier und Korn. Schorsch hat heute Abend einen feinen Zug durch die
Gemeinde gemacht. Mit Hansi ist er saufen gewesen, der Hansi hält was aus.
    Na ja, nicht so viel wie Schorsch, das kann keiner, und deswegen hat
Hansi sich längst bei seiner Kirche verkrochen, da pennt er bis morgen Mittag
und pisst sich dabei voll, denkt Schorsch kichernd. Schorsch klettert ungelenk
im Offakamp über den Zaun und steigt in den Recyclinghof ein. Seit Wochen
löchern ihn seine Kumpels mit der Frage, wo er übernachtet, aber er verrät es
ihnen nicht. Sonst kommen sie alle, und er muss seinen Luxus mit ihnen teilen.
Dann fliegen sie garantiert bald auf, und er muss verschwinden. Dabei hat er
selten so einen guten Platz gehabt. Hier gibt es eine Bretterbude, wo die Leute
ihre alten Möbel abstellen. Manchmal hat Schorsch ein richtiges Bettgestell zum
Übernachten. Da liegt er dann wie ein heimlicher Fürst und schaut mit seiner
Taschenlampe noch ein paar Pornohefte durch, die immer im Altpapier liegen,
diskret verschnürt natürlich. Altkleider zum Wechseln und noch gut besohlte
Schuhe liegen auch in Hülle und Fülle da. In einer anderen Bude werden
Hifi-Geräte gesammelt, manche Radios funktionieren noch einwandfrei. Ein echtes
Berber-Paradies. Oft nimmt Schorsch das ein oder andere mit und verkauft es an
den Türken, der immer Flohmarkt macht. Dann ist Feiertag. Aber heute ist
Schorsch zu müde, um noch zu wühlen. Außerdem ist er schön besoffen. Er legt
sich zwischen zwei Container auf seine Pappen und schließt die Augen. Morgen
wird ein guter Tag, denkt er. Schorsch denkt positiv, wenn er betrunken ist.
Dann geht’s ihm bestens. Er schließt die Augen und will sich schnapsduselig in
Morpheus’ Arme sinken lassen. Plötzlich hört er ein Geräusch, fast direkt neben
ihm. Erschrocken linst er aus seinem Versteck. Ein dunkler Schatten geht an ihm
vorüber, groß, unförmig. Er geht zum Sondermüll-Container und wirft einen Sack
ab. Der Sack plumpst dumpf zu Boden und raschelt. Ein Plastiksack, denkt
Schorsch. Nun ist der Schatten nicht mehr ganz so groß. Als er wieder an
Schorsch vorbeikommt, drückt Schorsch sich in die Ecke. Die Schritte des
Schattens entfernen sich. Stille kehrt ein, nur der sporadische Verkehr von der
nicht allzu weit entfernten Kollaustraße ist noch zu hören. Schorsch überlegt.
Das fällt ihm schwer, denn seine Gedanken lallen ein wenig. Der Schatten hat
etwas abgeladen. Heimlich. Wollte keine Gebühr zahlen. Gebühr für Sondermüll.
Sondermüll interessiert Schorsch nicht. Schorsch blickt zu dem Plastiksack. Der
ist ziemlich groß, auch wenn er ihn kaum erkennen kann. Nur die Umrisse.
Schorsch muss niesen. Er muss immer niesen, wenn er sich nicht entscheiden
kann. Schorsch zögert noch eine Sekunde, dann schält er sich aus seinen Pappen.
Die Neugier hat gesiegt. Er torkelt hinüber zum Container, kniet sich neben den
Sack und betastet ihn. Schorsch kann nicht sehen, wo oben und unten ist. Er
versucht, ihn aufzureißen. Es ist festes Plastik. Schorsch schafft es, ein Loch
hineinzubohren. Mühsam vergrößert er das Loch. Mit der stumpfen Akribie eines
Besoffenen konzentriert sich Schorsch auf seine Aufgabe. Er greift hinein in
den Sack und berührt etwas Kaltes. Er tastet. Es ist ein Fuß. Erschrocken zieht
er die Hand zurück. Morgen ist doch kein guter Tag, Schorsch, denkt er. Weiter
kommt er nicht, denn etwas Hartes donnert auf seinen Kopf und raubt ihm das
Bewusstsein. Er hört nicht mehr, wie ein Mann sagt: »Du hättest nicht niesen
dürfen, du Penner!« Und er spürt auch nicht mehr, wie er geschultert und
weggetragen wird.
    Â»Das ist nicht witzig«, befand Knut, der dienstälteste
Müllbeseitiger vom Offakamp. Er und seine Kollegen standen in ihren
orangefarbenen Overalls im Nieselregen um den Plastiksack herum und
betrachteten das, was daraus hervor lugte: der Unterleib einer jungen Frau,
tot, nackt und über und über mit
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