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Hexennacht

Hexennacht

Titel: Hexennacht
Autoren: Michael Siefener
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Bremsen des alten Bentley
waren genauso gepflegt wie die übrige Technik.
    Wo mochte die alte Lydia Vonnegut ihren Wagen in die Inspektion
gegeben haben? Der Kilometerzähler zeigte nicht einmal
vierzigtausend an; der Wagen war noch fast neu.
    Hoffentlich.
    Arved musste mehr Kraft auf das Bremsen verwenden, als er vermutet
hatte. Als die scharfe Kurve vor dem Ortseingang immer näher kam
und der Wagen nicht viel langsamer wurde, hätte er beinahe zu
beten begonnen. Allmählich aber reagierte der Wagen und Arved
fuhr mit nur wenig mehr als der erlaubten Höchstgeschwindigkeit
in den Ort ein. Verblüfft bemerkte er, wie jemand vor einem
gesichtslosen Neubau einen großen Blumenkübel anbohrte,
als wolle er ihn mit der Mauer verschrauben und vor einem
heraufziehenden Sturm schützen. Eine Frau in einem langen blauen
Abendkleid und mit hohen Stöckelschuhen stand mit zwei
Gießkannen und einem Rechen am Straßenrand und wartete,
bis Arved vorbeigefahren war. Im Rückspiegel sah er, wie sie
hinter ihm rasch die Straße überquerte und ein kleines
Stallgebäude aufschloss. Dann war er um die nächste Kurve
gebogen.
    Als er das Hinweisschild zur Abtei Himmerod sah, folgte er ihm. Er
verließ Großlittgen und tauchte in einen dunklen Wald
ein, der ihm wie ein Vorzeichen erschien. Die Sonne sank
allmählich und die Schatten der Bäume wurden länger.
Arved betätigte den elektrischen Fensterheber und kühle
Luft drang in das Wageninnere. Mit ihr kam gedämpfter Gesang von
Vögeln. Und ein dumpfes Gefühl von Feuchtigkeit.
    Wie in seinem neuen Haus.
    Hinter der nächsten Anhöhe lag das Zisterzienserkloster.
Arved bog von der Straße ab und fuhr durch das archaische
Torgebäude, hinter dem sich rechts von der vor kurzem
restaurierten Mühle ein kleiner Parkplatz befand. Erst als Arved
den Motor abstellte, fragte er sich, was er eigentlich hier wolle. Er
kannte diesen Ort gut, hatte hier unter der Leitung der Mönche
Exerzitien mitgemacht, hatte Kurse besucht, hatte vor allem mit Pater
Stephan lange Gespräche über den Glauben geführt und
war jedes Mal gestärkt und zuversichtlich von hier abgereist. Er
stieg aus und ging auf die Kirche zu.
    Schon immer hatte ihn dieses Gotteshaus mit seinen vollkommenen
Proportionen begeistert. Die Voluten in der stillen, eleganten
Barockfassade erinnerten ihn an St. Paulin. An all das, was er
verloren hatte. Er betrat die Kirche, die erst in den fünfziger
Jahren nach dem alten Vorbild wieder aufgebaut worden war, nachdem
das Kloster in der Franzosenzeit der Säkularisation zum Opfer
gefallen und in den langen Jahren danach zur Ruine geworden war. Ein
eisiger Hauch umfing ihn. Die Kirche lag in einer Senke und war
berüchtigt für ihre Kälte. Im Sommer war es ein Segen,
im Winter eine Qual.
    Einer der Mönche schrubbte den Boden. Es war ein sehr junger
Novize; Arved kannte ihn nicht. Er wollte ihn nicht ansprechen und
setzte sich still in die hinterste Bank. Der Novize schaute zu ihm
auf, wagte ein Lächeln, öffnete den Mund, als wolle er
etwas sagen, schien aber verwirrt zu sein. Ohne das Lächeln
abzusetzen, senkte er den Kopf wieder und arbeitete weiter. Wenn er
mit dem Schrubber gegen eine der Bänke stieß, war ein
lange hallendes Knirschen die Folge. Natürlich, dachte Arved.
Ich trage einen schwarzen Anzug, aber an meinem Revers steckt kein
kleines Kreuz mehr. Er hat geglaubt, ich sei ein Priester. Ich bin
noch immer Priester. Ich bin nicht laisiert.
    Ob er um ein Gespräch bitten sollte? Ob er Pater Stephan
aufsuchen sollte, der immer ein offenes Ohr für die Nöte
der anderen hatte? Doch was brachte es jetzt noch? Die Würfel
waren gefallen und er selbst hatte sie geworfen. Er schaute nach
vorn, zu der wunderschönen, riesigen Madonna auf der Mondsichel,
die in der Apsis thronte und den ganzen Kirchenraum mit ihrem Glanz
zu überstrahlen schien. Hier herrschte Friede. Ein Friede, der
ihm abhanden gekommen war. Seine Gedanken schweiften ab. Er wunderte
sich noch einmal über die seltsamen Aktivitäten in den
beiden Dörfern, die er auf dem Weg hierher durchquert hatte. Es
hatte den Anschein gehabt, als bereiteten sich die Leute auf etwas
vor – als führten sie ein Leben, das ihm völlig
unverständlich war und an dem er niemals Anteil haben
würde. Aber – was wusste er schon vom Leben? Er, der
Verhätschelte und Verwöhnte, der Beschützte und
Lebensfremde? Ja, er hatte während seiner Zeit als Pastor in
Sankt Paulin vieles gesehen, was er sich nie hätte vorstellen
können:
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