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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht
Autoren: Stefan Fandrey
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an Gott seine Berufung.
    Andächtig schritt Raphael auf das große Klostertor zu. Er hob die Hand, holte tief Atem und schlug dreimal gegen das Tor. Jeanne stand neben ihm und lächelte. Nichts geschah. Raphael hämmerte mit beiden Händen an das Tor – und plötzlich öffnete es sich einen Spaltbreit. Raphael drückte mit seinem Körper dagegen und stieß es auf. Er spähte in den Klosterhof. Niemand war zu sehen.
    »Ich warte hier auf Euch«, sagte Jeanne auf seinen fragenden Blick.
    Raphael ging hinein. Wo waren nur die Brüder? Die Laudes mussten längst begonnen haben. Er schritt durch den Garten. Als er die verdorrten Blumen sah, die verwilderten Beete und Wege, ahnte er, was ihn erwartete.
    Er betrat den Arkadengang und stieg in den Kreuzgang hinauf. Dann ging er gen Norden zum Dormitorium. Der Schlafsaal war verlassen, die Schlafstätten ordentlich gemacht, als kämen die Mönche jeden Augenblick zurück, um zu ruhen. Er rannte hinaus und weiter zum Scriptorium. Bücher, Tintenfässchen und Gänsekiel lagen auf den Stehpulten, bereit, von geschickten Fingern benutzt zu werden. Raphael lief weiter. Schaute in Werkstätten, Archiv, Refektorium und Kellergewölben nach.
    Der letzte Ort, den er aufsuchte, war die Mönchsbrauerei. Hier endlich fand er Bruder Bruno. Der alte Freund saß auf einem Stuhl, den Oberkörper auf dem kleinen Tisch davor. Auch er zeigte deutlich die Anzeichen der Pest. Zärtlich streichelte Raphael den Kopf des Bruders. »Guter Bruno«, flüsterte er. Vor Bruno auf dem Tisch lag eine Note. Er nahm sie und las vom Schicksal des Klosters. Oft ereilte die Seuche die Brüder unseres Konvents , schrieb Bruno, als sie den Kranken die Gnadengaben reichten. Und unversehens starben sie, bisweilen schneller als diese, allein durch die Berührung und wegen des Pesthauchs. Wir haben sie alle, Brüder und Fremde, auf dem Klosterfriedhof in Würde bestattet. Nun bin allein ich noch übrig, selbst seit vier Tagen von der Krankheit gezeichnet. Vielleicht findet sich ein guter Mensch, der auch meine sterbliche Hülle zu den Brüdern auf den Totenacker trägt. Möge Gott uns allen gnädig sein.
    Raphael setzte sich neben Bruno und beweinte den guten Freund und seine Brüder.
    Dann stand er auf und versuchte, Bruno auf den Friedhof zu tragen. Doch der Körper war zu schwer. So ging er in den Garten, holte eine Karre und legte ihn darauf. Der Weg zum Friedhof war selbst mit der Karre beschwerlich. Als Raphael es geschafft hatte, stellte er die Karre ab. Er fand eine Schaufel und hob ein Grab aus, in das er Bruno legte. » Requiescas in pace , guter Bruno«, flüsterte er und schaufelte das Grab zu.
    Was soll ich nun tun, fragte er sich. Er konnte darauf keine Antwort finden. Er verließ den Friedhof und ging durch die Gärten zurück zum Tor, wo Jeanne noch immer auf ihn wartete.
    »Es tut mir sehr Leid«, sagte Jeanne, noch bevor Raphael ein Wort sagen konnte, und nahm ihn in den Arm.
    Eine Zeit lang standen sie so da. Schließlich löste sich Raphael von ihr. »Habt Dank«, sagte er.
    »Was habt Ihr vor«, fragte sie, »jetzt, da Euer Konvent nicht mehr existiert? Wollt Ihr in ein anderes Kloster gehen?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Raphael. »Mein Glaube an Gott hat durch die Erfahrungen und Entdeckungen, die wir gemacht haben, keinen Schaden genommen. Mein Leben als Mönch dagegen schon. Ich bin nicht sicher, ob ich so in einem anderen Kloster von Nutzen wäre. Ich bin ich mir nicht einmal gewiss, ob ich in St. Albert lange hätte leben können.« Er stockte. »Welche Pläne habt Ihr, Madame?«
    Da nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn. »Ich gehe nach Dreux«, sagte sie und lächelte. »Es gibt dort einen Hof, der bewirtschaftet werden muss. Vielleicht möchtest du mich begleiten.«
    Erst verstand Raphael nicht, worauf sie hinauswollte. Dann aber glomm Erkenntnis in seinen Augen auf, und er küsste sie. »Ich denke, das ist eine sehr gute Idee, Jeanne.«
    Drei Tage darauf erreichten sie Raphaels elterlichen Hof bei Dreux. Es war alles noch so, wie sie es ein Jahr zuvor verlassen hatten. Giacomo und Raphaels Stute tobten ausgelassen über die Felder. Arm in Arm gingen Raphael und Jeanne zum Grab der Eltern unter der Ulme und verweilten an dem von Kornblumen umrahmten Ort, bis der Abend anbrach. Im Haus machten sie dann eine Flasche Wein auf, aßen von dem Brot und dem Käse, den sie mitgebracht hatten, und sprachen über ihre Zukunft. Es war ein wundervoller Abend, dem noch viele, viele
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