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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht
Autoren: Stefan Fandrey
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es nicht mehr auszuhalten. Er hob eine Faust. Unter den anderen Arm hatte er sich die Rollen geklemmt. »Ihr müsst stolz auf Euch sein!«, fauchte er.
    Raphael antwortete nicht gleich. Ja, sie waren am Ende ihrer Reise angekommen. Sie hatten dem bösen Feind erfolgreich widerstanden und ihn schließlich besiegt. Es war kein Moment des Triumphes, kein Augenblick der Genugtuung oder Befriedigung. Vielmehr war es die Gewissheit, dass Hass, Gier und Niedertracht nicht über Liebe, Freundschaft und Wahrhaftigkeit zu obsiegen vermochten. Henri, der Ketzer, der Abt eines teuflischen Ordens, würde niemals wieder unschuldige Menschen richten. Sein Schicksal sollte sich nunmehr selbst auf dem Scheiterhaufen erfüllen. Jetzt gab es nur noch eine Sache zu erledigen. »Gebt mir die Rollen«, sagte er. »Und ich verschone Euch.«
    » Ihr verschont mich?« Henri lachte schallend.
    »Mir scheint«, sagte Raphael, »Euch ist nicht klar, in welcher Lage Ihr Euch befindet. Lebend kommt Ihr hier nicht mehr heraus, wenn ich es nicht will. Gebt mir also die Rollen, und wir lassen Euch gehen. Sofern Ihr mir versprecht, niemals wieder einen Fuß auf das Gebiet der französischen Krone zu setzen.«
    »Glaubt Ihr, in den Rollen findet Ihr Worte der Liebe und Gerechtigkeit?« Henri lachte irr auf. »Törichter Narr! Die letzten Worte Christi beschwören das Weltenende herauf. Tod, Leid und Dunkelheit prophezeite er. Die Herrschaft der schwarzen Mächte. Nicht das Licht, nach dem Ihr sucht.«
    »Die Welt hat ein Recht, zu erfahren, wie das Ende aussehen wird«, erwiderte Raphael.
    »Ihr wisst nicht, wovon Ihr redet«, sagte Henri. »Wüsstet Ihr es, würdet Ihr und Eure lächerliche Entourage in die tiefsten Löcher kriechen, die Ihr finden könnt.«
    Jetzt lachte Raphael. Er lachte und lachte und lachte.
    »Was lacht Ihr so einfältig?«, fragte Henri.
    »Ich …« Raphael konnte kaum sprechen, so sehr wurde er von Lachen geschüttelt. »Ich hatte damals bei Eurer Ankunft in St. Albert eine Höllenangst vor Euch. Jedes Mal, wenn ich in Eurer Nähe war, schnürte es mir die Kehle ab. Ich zitterte am ganzen Leib. Danach das lange Jahr unserer Flucht vor Euch und Euren Mordbuben. Wie oft habe ich des Nachts wach gelegen und mir vorgestellt, wie wir uns wohl wieder begegnen würden. Was ich Euch sagen würde. Ich habe mich gefragt, ob mich Eure Gegenwart immer noch zittern lassen würde. Und nun steht Ihr hier vor mir und seid eine so jämmerliche, erbarmungswürdige Erscheinung. Ihr glaubt, Ihr seid vom Schicksal auserwählt, dabei ist jeder unfreie Bauer mehr wert als Ihr.«
    Wortlos glotzte Henri Raphael an. Er schwankte leicht, während er die drei Rollen festhielt.
    »Er wird springen«, flüsterte Luna.
    »Springen?«, fragte Raphael. »Du meinst, er springt in den Abgrund hinunter?«
    »Ja.«
    »Das darf nicht geschehen«, flüsterte Raphael. »Die Rollen könnten zerstört werden.«
    »Es muss geschehen«, sagte Luna. »Und es wird geschehen.« Noch bevor Raphael etwas entgegnen konnte, breitete sie die Arme aus und ging auf Henri zu. »Vater!«, rief sie. »Willst du deine Tochter nicht in den Arm nehmen? Fleisch aus deinem Fleisch, Blut aus deinem Blute.«
    Entsetzt starrte Henri Luna an. Mit der freien Hand bedeutete er ihr, stehen zu bleiben. Schritt um Schritt näherte er sich der Felskante.
    Doch Luna ging weiter. Die Arme ausgestreckt, schritt sie auf Henri zu, der bereits am Rand des Plateaus stand. Sie war noch drei Schritte entfernt. Da ließ Henri sich nach hinten fallen und stürzte hinab.
    Sofort lief Raphael zu Luna und schaute über die Kante. Aus dieser Höhe zu fallen, bedeutete zweifellos den Tod. Irgendwo dort unten zwischen den schroffen Felsen, den Büschen und Bäumen musste Henri mit gebrochenen Gliedern liegen. In seinen Händen die Rollen. »Wir müssen zu ihm!«, rief er. »Sofort.« Er stürmte an Jeanne, Pierre und den Rittern vorbei. Durch die Gänge und zu dem Schacht, der hinauf zur Bademulde führte. Seine Freunde blieben dicht hinter ihm. Oben auf der Burg stieg er in den Sattel von Henris Rappen, trat ihm die Fersen in die Flanken und jagte den Berg hinunter.
    Als die Freunde Raphael etwas später auf einem Stein hockend fanden, blickte er gedankenverloren zu Boden.
    »Wo ist der Teufel?«, fragte d’Aubrac.
    »Weg«, gab Raphael zurück, ohne aufzusehen.
    »Weg?«, echote d’Aubrac. »Na, irgendwo wird er wohl liegen.«
    Raphael breitete die Arme aus. »Sucht ihn und gebt mir Nachricht, sobald Ihr ihn
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