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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht
Autoren: Stefan Fandrey
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gefunden habt.«
    Gemeinsam mit seinen Männern, Pierre und Jeanne durchkämmte d’Aubrac die Gegend unter dem Plateau.
    Luna setzte sich neben Raphael und riss einen langen Grashalm zwischen zwei Steinen aus. »Wohin ist er entkommen?«, fragte Raphael.
    Sie zeigte zum Berg hoch. »Du hast gesehen, wie er hinuntergestürzt ist.«
    »Gewiss«, sagte Raphael. »Die Felswand fällt senkrecht ab. Es gibt keine Möglichkeit, sich auf irgendeinen Vorsprung zu retten. Also muss Henris zerschmetterter Leib an ebendieser Stelle liegen. Wo ist er also?«
    Luna schwieg. Sie spielte mit dem Grashalm in ihrem Gesicht.
    »Luna!«, sagte Raphael scharf. »Wo ist Henri? Und wo sind die Rollen? Sprich endlich!«
    Jetzt sah Luna auf. Sie lächelte. »Ich weiß es nicht, lieber Raphael«, sagte sie.
    »Mein Kind«, sagte Raphael und hob beschwörend die Hände. »Du scheinst deine Gabe zurückerlangt zu haben. Du musst doch sehen, wo er ist. Bitte, sag es mir.«
    Luna nahm sein Gesicht in beide Hände und zog ihn zu sich heran. »Raphael«, flüsterte sie, »es gibt Dinge, die kann ich nicht sehen, weil ich sie nicht sehen darf . Weder du noch ich können daran irgendetwas ändern. Es tut mir Leid. Sehr Leid.«
    Die Berührung ihrer warmen Hände, die Kraft, die durch Lunas Finger zu fließen schien, und die Anspannung, die nach mehr als einem Jahr von Körper und Geist abfiel, brachten Raphael zum Weinen. Luna drückte ihn an sich, doch er schluchzte nur noch heftiger. Sie schloss ihn in die Arme wie ein Kind, das bei seiner Mutter Trost und Geborgenheit sucht.
    Kurz bevor d’Aubrac und die anderen wieder bei ihnen waren, gewann Raphael seine Fassung wieder. Er trocknete sein Gesicht mit einem Ärmel. »Es ist gut«, sagte er, und Luna lächelte still.
    Schon von weitem rief d’Aubrac: »Hier geht es mit dem Teufel zu! Weit und breit keine Spur von dem Bastard!«
    »Vergesst Henri«, sagte Raphael, als d’Aubrac neben ihm stand. »Es gibt Rätsel, die werden wir nie lösen.«
    Jeanne stellte sich vor Raphael. Sie wirkte besorgt. »Seid Ihr wohlauf?«
    »Ja«, sagte er und blickte zu Luna, die wieder mit dem Grashalm spielte. »Es ist alles in Ordnung.«
    In diesem Moment versank die Sonne hinter den Bergen. Sie entschieden, ein Lager für die Nacht aufzuschlagen. Die Katharer waren längst aus der Burg geflohen und stellten keine Gefahr mehr dar. Sie mussten bereits weit fort sein. So richteten sie das Lager an Ort und Stelle her. D’Aubrac hatte einen ansehnlichen Vorrat an Wein dabei, sodass für ausgelassene Stimmung gesorgt war. Einer der Männer spielte Dudelsack, ein anderer hatte eine Schalmei in seinem Gepäck. So sangen und tanzten, scherzten und lachten sie miteinander. So mancher Ritter wartete mit Anekdoten auf, die den Frauen die Schamesröte ins Gesicht trieben.
    Irgendwann in tiefster Nacht, Pierre vollführte gerade einige Kunststückchen, stahl sich Raphael davon. Jeanne bemerkte die stille Flucht und eilte ihm hinterher. Sie fand ihn an einen Baum gelehnt, den Mond betrachtend.
    »Ihr müsst stolz auf Euch sein«, sagte sie hinter ihm.
    Raphaels Blick blieb auf den Mond gerichtet. »Habt Ihr Euch einmal gefragt, wie viele Menschen vor uns den Mond angeschaut haben? Und wie viele nach uns sich von seinem Glanz verzaubern lassen werden?«
    Jeanne trat neben ihn und schaute hinauf. »Nein«, sagte sie. Sie schwiegen eine Weile. Dann fuhr sie fort: »Doch in dieser Nacht zählt das alles nicht. Heute Nacht scheint er nur für uns. Für Euch, für mich und für unsere Freunde dort am Feuer.« Sie küsste ihn zärtlich auf die Wange.
    In den letzten Tagen seit ihrer Vereinigung, eigentlich bereits seit Monaten, wie Raphael sich eingestand, hatte er über seine Gefühle für Jeanne nachgedacht. Er war zu dem Schluss gekommen, dass er beenden musste, was niemals hätte sein dürfen. Er ein Mönch und dem Zölibat verpflichtet, sie eine verheiratete Frau. Es gab keine Zukunft für sie. Morgen würden sie jeder an seinen Bestimmungsort zurückkehren, und alles, was blieb, wäre die Erinnerung an einen wundervollen Traum. Er küsste sie auf die Stirn und schob sie sanft von sich weg. Im fahlen Mondlicht sah er, dass in ihren Augen Verständnis zu glimmen schien.
    Sie gingen schweigend zum Lager. Einige Ritter lagen längst volltrunken um das Feuer. Nur Luna, Pierre, d’Aubrac und Roger scherzten noch herum. Doch auch sie fielen bald in tiefen Schlaf.
    Raphael wartete, bis Jeanne unter die Felle gekrochen kam, dann
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