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Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht
Autoren: Jessica Keener
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Präludium
    Mit der E-Mail von Mickey Fineburg ist alles wieder da.
    Hi, Sarah, musste an die guten alten Zeiten in unserer Nachbarschaft denken. Bin im Internet auf deine CDs gestoßen und habe in die Proben reingehört. Wow! Beeindruckend. Was hat dich nach Kalifornien verschlagen?
    Mickey habe ich mal unter einem ramponierten Billardtisch in unserem Keller geküsst. Wir waren acht, seine Lippen warm wie Knete, er hat sie auf meine gepresst, richtig ernst gemeint. Ich habe den Druck erwidert, glücklich und furchtlos, ohne zu merken, dass Mickeys jüngerer Bruder uns beobachtete. Abends beim Essen schaute mich Mutter ernst und ungläubig an. Sie sagte:
Mickeys Mutter hat mich angerufen. Sarah, du bist zu jung, um damit anzufangen.
    Anzufangen? Womit?, wunderte ich mich.
    Ich forsche ihm kurz im Internet nach. Auf der Unternehmensseite steht im Mitarbeiterprofil, nach dreiundzwanzig Jahren in London wohne er jetzt in Greenwich, Connecticut, sei verheiratet und Vater von drei Kindern. Ich schreibe Mickey zurück – «Vielen Dank. Ich bin nach der Highschool in den Westen gegangen. Habe gerade dein Profil auf der Unternehmensseite gelesen. Wie hat es dir in Übersee gefallen?»
    Mickey antwortet prompt:
London war großartig.Neuengland ist ein Schock. Erinnerst du dich noch an die Feuer, die wir gemacht haben? Ist es nicht verrückt, dass unsere Eltern uns das erlaubt haben?
    Ich schreibe: «Dein Dad war nicht besonders begeistert davon.»
    Im Herbst harkten Mickeys Dad und mein Vater das Laub auf dem Rasen, schaufelten und schoben die Blätter auf unserer kleinen Straße, die eine Sackgasse war, zu Haufen zusammen, und setzten die Blätterberge in Brand. Mickey und ich stocherten in der Glut, bis Funken stoben, entzündeten Stöcke und malten Rauchspiralen in die Luft.
    Eine weitere E-Mail kommt:
Mein Dad ist letztes Jahr gestorben. Mom ist im Betreuten Wohnen, es geht ihr dort recht gut, aber sie ist dement. Was ist mit deinem Vater?
    Ich antworte: «Tut mir sehr leid, das zu hören. Mein Vater lebt mit seiner zweiten Frau in Florida. Er kann nicht mehr laufen – Hüftprobleme –, aber sein Gedächtnis ist intakt.»
    Mickey wohnte nebenan. Ich kannte die Fineburgs genauso gut wie die Grenze aus Tannen, die beide Grundstücke voneinander trennte: Sie waren immer da, ein Teil meiner Nachbarschaft. Der Kuss war nur ein Spiel unter Kindern, so wie andere Spiele, die wir damals gespielt haben, wie Krieg oder Kickball oder Verstecken – nichts weiter; sein Dad war jemand, der mir von seinem Rasenmäher aus zuwinkte.
    Dann schreibt Mickey:
Ich hoffe, das ist nicht zu persönlich, aber du bist ganz schön spät noch auf …
    Ich habe das schon hundertmal durch, die nächtlichen Streifzüge durchs Haus um drei oder vier Uhr, diesegedankenschwere Stunde, wenn sich alle mir nahen Menschen meines Lebens – Alan, mein Ehemann, und unsere drei Söhne – wie Staubkörner im Meer auflösen. Zu dieser Stunde verläuft Zeit nicht gradlinig, sondern kreisförmig, und taucht in Unterwasserhöhlen ein. Meine Kinder leben alle an der Ostküste, promovieren in Maine, Vermont und Massachusetts. Alan würde um diese Zeit schlafend in unserem Bett liegen, ist aber geschäftlich in New York.
    Ich schreibe ein letztes Mal zurück: «Es ist wirklich schön, nach so vielen Jahren von dir zu hören. Danke, dass du dich gemeldet hast.» Dann fahre ich den Computer runter, knipse die Schreibtischlampe aus und laufe durch den dunklen Flur hinunter zum Schlafzimmer, reise auf der Suche nach Antworten zurück in die Vergangenheit, springe in Gedanken, was bei so vielen angesammelten Jahren leicht ist, in der Zeitenfolge zurück, an einen Ort, den es nicht mehr gibt. Ganz so, als würde ich auf ein Fürimmer zuschwimmen, nur rückwärts.

1. Kapitel
Der Esstisch
    Aufgewachsen bin ich in Soquaset, Massachusetts, in einem Haus mit sechs Schlafzimmern. Der Name unserer Stadt wurde von allen immer falsch geschrieben. Auf den Briefen, die wir bekamen, stand Soquashit oder Sacquatics oder Socket. Und Massachusetts verleitete immer zu einem «s» zu viel und einem «t» zu wenig. Unsere Stadt lag sieben Meilen vom Atlantik entfernt, mit dem Auto war man schnell am Wasser, aber bis in das nördlich gelegene Boston dauerte es eine gute Stunde. In den 50ern und 60ern boomte die Stadt und wurde
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