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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich
Autoren: Pelle Sandstrak
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gefüllt. Zucken im Bauch, Schweiß, Zittern, Geräusch .

    Ich merke, wie mein Körper und mein Blutkreislauf mit einer größeren Menge Gevalia, aber trotzdem mit gigantischen Mengen Gehirnsaft gefüllt werden. Ich rufe, klatsche, trete an das meiste in meiner Umgebung. Dann Stille. Wieder eine schlaflose Nacht.

    Tag 21.

    Die leere durchsichtige Thermoskanne in der Mitte wird zu 50 Prozent mit Gevalia und zu 50 Prozent mit Zoégas Gehirnsaft gefüllt. Was ist Kaffee, was ist Gehirnsaft? Lasse trinkt, ich trinke. Nichts geschieht. Wenn ich jetzt nicht sterbe, dann werde ich wohl überleben. Ich wandere in der Küche herum, drücke mir Zimtschnecken in den Mund, trete, schimpfe mit Lasse, der in aller Seelenruhe seine Tasse reinen Zoégas trinkt. Bin ich vergiftet worden? Doch. Vielleicht. Oder?

    In der Nacht schlafe ich drei Stunden. Vor Erschöpfung.

    Tag 22.

    Die leere durchsichtige Thermoskanne in der Mitte wird zu 51 Prozent mit Zoégas Gehirnsaft und zu 49 Prozent mit Gevalia gefüllt. Jetzt ist mehr Gehirnsaft als Gevalia in dem Gemisch, das ich trinke, und das gab es noch nie. Und ich sterbe nicht, ich schlage mit dem Kopf fest gegen die Wand, so dass er mir fast abfällt, aber ich überlebe.

    Den Rest des Abends liege ich im Bett, bin die ganze Nacht wach, schlafe kein bisschen, höre Radio.

    Tag 37.

    Die leere durchsichtige Thermoskanne in der Mitte wird zu 99 Prozent mit Zoégas Gehirnsaft und zu einem Prozent mit Gevalia gefüllt. Lasse sieht zu, während ich meinen Gehirnsaftkaffee trinke und Zimtschnecken esse. Ich schlafe drei Stunden.

    Tag 43.

    Ich schlafe zehn Stunden. Und trinke hundertprozentigen Gehirnsaft zum Frühstück.

    Wir haben es jetzt geschafft, die drei schlimmsten Rituale, die mein Leben seit ich denken kann bestimmt haben, und die mich zu siebenundneunzig Prozent schwerbehindert gemacht haben, nach und nach zu zerhacken.

    Ich wage nicht, richtig lockerzulassen, mag selbst nicht wirklich daran glauben. Aber ich gehe tatsächlich durch die Straßen, in Läden rein, aus Läden raus, trinke Kaffee, wasche mich, dusche, lese eine Zeitung, ohne denselben Satz ein, zwei, drei, vier, fünf + ein, zwei, drei, vier Mal zu lesen. Vorsichtig, sehr vorsichtig fange ich an, einen Sinn im Alltag zu sehen, oder zumindest einzusehen, dass alles vielleicht doch einen Sinn hat. Aber ich wage noch nicht zu jubeln. Das Ganze erscheint einfach zu unglaublich, es muss einen Haken geben, einen Teufel, der mir jeden Moment auf die Schulter springen und ins Ohr flüstern kann: »Begreifst du nicht, dass das alles nur ein Witz ist, du kranker Superidiot?«

    Aber er kommt nicht.

    Der Alltag saust dahin, und ich rolle weiter. Rückfälle und Einbrüche gibt es immer wieder, aber inzwischen scheinen nicht mehr die Rituale mein Verhalten zu steuern, sondern die Stabilität. Die Angst, einen Rückfall zu erleiden, stört mich allerdings immer mehr und immer öfter. Erfolg erzeugt Zwänge? Doch. Zwei Schritte vor, einen zurück. Der Gedanke, dass ich auf dem besten Weg bin, Erfolg zu haben, stresst mich. Der Druck, erfolgreich zu sein, erzeugt die Angst, zu scheitern, und aus eben diesem Grund arbeiten Lasse und ich weiter. Wir machen neue Übungen und wiederholen die alten. Wir müssen meine neuen Routinen ganz einfach eintätowieren, dürfen nicht zulassen, dass sich die alten Rituale wieder einnisten. Wir überqueren Türschwellen, ich ziehe mich an, dusche und wasche mich und putze und trinke Kaffee und esse Zimtschnecken und trete Kücheneinrichtungen kaputt.

    Aber die ganze Zeit zwei Schritte vor, einen zurück.

    Lasses Band läuft jeden Tag in der Dusche. Ich unterschreibe einen Vertrag, jeden Tag Zoégas zu trinken. Wir üben x, z und y. Wir suchen nach hellblauen und lilafarbenen Punkten, und wir gehen vor und zurück, hinein und hinaus, über Türschwellen, die mir immer noch gewisse Probleme bereiten.

    Lasse nimmt eine neue Übung auf, ein neues Rezept auf einem neuen Band: Wie die Normalvariante eines Menschen Kaffee kauft. Ich lege das Band in meinen Walkman ein und wandere von zu Hause los. Ich folge der Stimme ganz exakt, das Rezept lenkt meine Schritte:

    »Jetzt gehst du zu Hause los, überquerst Türschwelle Nummer eins an der Haustür, jetzt stehst du an der ersten Ampel, grünes Männchen, du gehst über die Straße, weiter durch den kleinen Park, am Springbrunnen vorbei, in den Laden, über Türschwelle Nummer zwei, gehst an der Waschmittelabteilung rechts vorbei, jetzt hast du das
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