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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich
Autoren: Pelle Sandstrak
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treffen wir uns meist, um uns abzustimmen, nachzufühlen – und Kaffee zu trinken.

Vielleicht das, was man Zukunft nennt

    (90er-Jahre) Ich versuche, zu etwas zurückzufinden, während ich eifrig nach etwas anderem suche, vielleicht nach dem, was man Zukunft nennt. Ich weiß, dass ich nichts habe, worauf ich mich zurückbesinnen kann. In meinem bisherigen Leben habe ich nicht viel anderes gemacht als zwangshandeln, ritualisieren und ticsen, und jetzt, da das langsam nachlässt, ist die Verwirrung gigantisch. Ich weiß, dass ich etwas kann, ich muss es nur finden. Ich bin nicht jung, aber auch nicht alt. Aber ich bin zu jung, um mich zur Ruhe zu setzen, und zu alt, um mich um Themen zu kümmern, von denen ich nicht einmal den Namen kenne.

    Also renne ich kreuz und quer zwischen Behandlungen, Gelegenheitsjobs und Schulen hin und her. Während der langwierigen Behandlungen erfahre ich zudem, dass ich an der Grotowski-Schule eine einjährige Theaterausbildung absolvieren kann. Die Schule verschafft meiner eingeschlossenen Energie Auslauf, so dass ich mich während der ersten Improvisationen ein wenig manisch benehme. Hinterher nehmen die Tics und die Zwänge eine Auszeit. Ich verberge, wer ich bin und warum ich komme. Stattdessen sage ich, dass ich schon lange auf eine Schule wie diese hätte gehen wollen, und die meisten kaufen mir meine Erklärungen ab. Warum auch nicht? Alle sind freundlich, zeigen Fürsorge und Interesse. Eigentlich gäbe es nichts, wofür ich mich schämen müsste. Nach der Schule sind wir zusammen, trinken Kaffee, essen zu Mittag und unterhalten uns, und plötzlich empfinde ich mich als Teil einer Gruppe. Ein erstaunliches Gefühl. Ich erinnere mich nicht, wann ich das letzte Mal mit anderen zusammengesessen und Kaffee getrunken habe. Und es gefällt mir, solange ich nicht privat werden muss. Das Persönliche ist etwas ganz anderes. Ich habe gelernt, die Tics zu verbergen und mir genau in dem Moment, wenn sie kommen, etwas auszudenken – einen Witz, eine Pointe, eine Idee. Das Beste an der Schule ist Kristina. Sie ist die attraktivste und begabteste Schülerin dort. Kristina ist definitiv ein Schauspieltalent, wir anderen sind lediglich Statisten. Ich verliebe mich in sie, und sie sich in mich. Wir werden ein Paar. Kristina öffnet gut verschlossene Schubladen in meinem Körper – ich bin imstande, Nähe zu geben und Nähe zu empfangen. Bis zu einer gewissen Grenze. Ich schäme mich, habe immer ein schlechtes Gewissen, aber vor allem will ich sie auf keinen Fall abschrecken oder schon jetzt verlieren. Ich spüre allerdings, dass beides geschehen wird. Aber wir kämpfen weiter, spielen Theater, ziehen zusammen – verdammt, ich lebe! Natürlich kommen die Rituale angekrochen, wahrscheinlich sind sie eifersüchtig geworden, finden, dass sie zu viel Platz in meinem Leben einnimmt. Wieder lenken sie mein Verhalten, behindern die Nähe, vergiften meine Spontaneität. Ich erzähle Kristina von vierzig Prozent meines Lebens, den besseren vierzig Prozent, und sie nimmt meinen Bericht mit viel Reife entgegen. Aber Kristina ist eine Frau, die weiterfliegen muss, sie darf nicht drinnen bei mir hocken, sie muss raus und fort und sich der Kunst widmen. Ich muss raus und fort und mich der Behandlung widmen. So einfach ist das.

    1992 erleide ich einen heftigen Rückfall. Ich kann kaum irgendwohin, sitze zumeist drinnen. Ich pendele weiter zwischen der Behandlung und der Wirklichkeit hin und her. Die Sitzungen mit Lasse haben mich noch ein Stückchen weitergebracht. Ich nehme einen Sklavenjob im Krankenhaus an. Ich fahre Patienten herum, Patienten, die nur selten bei Bewusstsein sind, nur selten noch leben. Dann werde ich von einem Bestattungsinstitut abgeworben. In einem schwarzen Volvo 740 mit Sonderausstattung hole ich Verstorbene ab, hebe sie höchst menschlich in einen wasserdichten schwarzen Gummischlafsack und fahre sie zum Leichenschauhaus. Nach einem Monat fällt mir ein, dass ich ja gar keinen Führerschein habe, aber das macht mir nichts aus, und meinem Chef auch nicht, der glaubt, ich würde einen Witz machen – und wer hält schon einen Leichenwagen an? Also fahre ich weiter ohne Führerschein Leichenwagen, hebe Verstorbene, zünde Kerzen an und zeige den frisch geschminkten Leichnam im milchweißen Sarg, ganz hinten in der Kapelle des Leichenschauhauses. Dann gebe ich den nächsten Angehörigen die Hand, und dem Personal und meinen Kollegen – das alles als ein Teil der Behandlung. Suche die
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