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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich
Autoren: Pelle Sandstrak
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Perspektiven wiederholen, neue Tonbänder aufnehmen. Ich verliere den Biss, bin niedergeschlagen, schlafe schlechter – wird es denn nie ein Ende nehmen? Aber mitten in all dem grauen Nebel hänge ich weiter meine gelben Klebezettel mit den eigenen handgeschriebenen Botschaften auf und lese sie, manche sind mehrere Jahre alt, andere erst vor einem Monat formuliert – »du hast es besser, du hast ein Leben«. Ich erinnere mich selbst daran, dass es eine Zukunft geben kann, es ging mir gut, ich habe Fortschritte gemacht. Dafür gibt es Beweise. Die gibt es. So ist es.

    Ich habe immer bessere Tage und Wochen. Wochen, die dann zu Monaten werden. Ich beginne zu genießen und versuche zu lernen, wie man ohne Zwänge genießt.

    (1996) Plötzlich geschehen Dinge. Doch. Dinge geschehen. Vollständig unbegreifliche Dinge.

    Die bösen Gedanken legen sich, die Rituale sind müde, die Tics schlafen immer öfter. Das Gehirn registriert anderes als Zwangsgedanken. Die Nase genießt Düfte und der Mund schmeckt das, was er will. Die Rückfälle werden kommen, und sie kommen, wenn ich am wenigstens damit rechne. Aber das Puzzle im Kopf nimmt Form an, Teile fallen auf ihren Platz, schaffen ein Bild, ein Bild, das ich nicht wiedererkenne. Aber das Bild, das gerade jetzt vor mir liegt, das mag ich sehr. Und das Bild wartet. Und wartet.

Epilog – So gesund, wie ich sein will

    Siebenundneunzig Prozent behindert, drei Prozent Hoffnung.

    »Das ist verdammt viel Hoffnung«, hat Mindus gesagt.

    Damals habe ich daran gezweifelt. Heute weiß ich es besser. Ich selbst bin das Ergebnis, die Antwort auf meine eigene Frage: Werde ich irgendwann gesund sein? Hoffentlich nicht. Nur so gesund, wie ich sein will. So gesund, wie ich werden will. Da bin ich heute. Hier und jetzt.

    Es gibt wohl keinen tieferen Sinn in Leiden und Freude der Menschen. Man hat Glück oder Unglück. Einige erfahren viel Widerstand, andere merken kaum, dass sie leben. Verschiedene Widerstände und verschiedene Möglichkeiten. Aber vor allem gibt es Möglichkeiten. Möglichkeiten bedeuten Hoffnung, und die Hoffnung ist persönlich.

    So gesund, wie ich sein will.

    Jetzt will ich nicht gesünder sein, nun genügt es. Ich habe vor langer Zeit vergessen, wo die Grenze zwischen gesund und krank verläuft. Ich fühle mich gesund, mache aber immer noch kranke Sachen. Das, was die anderen als krank betrachten würden. Die anderen?

    Ich habe schließlich gelernt, dass es keine normalen Menschen gibt. Die Normalvariante eines Menschen klingt wahrscheinlicher. Denn es gibt eine Normalvariante, die gibt es. Die Normalvariante steht morgens auf, duscht, frühstückt, bringt die Kinder in die Schule, geht zur Arbeit, holt die Kinder, isst zu Abend, nimmt möglicherweise ein abendliches Bad, produziert möglicherweise neue Kinder, die man abholen muss, schläft, wacht auf, nimmt eine neue Dusche, isst ein neues Frühstück …

    Ich finde, das klingt krank. Aber es ist nicht krank. Wahrscheinlich ist es nur das, was man Routine nennt. Und irgendwo da drin, zwischen den Routinen, liegt der Sinn des Lebens, heißt es.

    So gesund, wie ich sein will.

    Heute ist das mein Normalzustand. Ein Teil meiner Persönlichkeit.

    Es gibt ja eine verschwommene Grenze zwischen dem, wie gesund man sein will, und dem krankhaften Normalzustand. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie es war, morgens aufzuwachen und nicht meine Impulse und Tics zu haben. Wie war das Leben? Es ist weg. Ich erinnere mich nicht, jemals ein solches Leben gelebt zu haben.

    Bei einem kranken Menschen fehlt oft etwas im Körper, ja, oft ist das so. Man füllt Minerale und Medizin ein, damit der Körper sich erholt, gesund wird, normal funktioniert. Wenn ich eines Morgens aufwachen würde und nicht die Tourette-Energie im Körper hätte, dann würde mir etwas fehlen, ich würde mich also krank fühlen.

    Die Tourette-Energie ist meine beste und hoffnungslos unerklärliche Freundin geworden.

    Es ist eine Energie, mit der ich lebe. Ich weiß nicht, wer ich ohne diese Energie wäre.

    Ich lebe mit der Energie und einem rhythmischen Gefühl, das mir inzwischen Ruhe schenkt.

    Und Gelassenheit. An der Grenze zur Normalvariante einer Gelassenheit.

    Aber nur an der Grenze.

Das gönne ich mir

    (1997, März) Café Siesta. Malmö.

    Ich bin gebeten worden, einen Monolog über den Tod zu halten. Das Seminar ist von einer Studentenvereinigung an der Universität organisiert worden. Die Frau, die mich anruft, hat die schönste
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