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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich
Autoren: Pelle Sandstrak
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Gartentor. Es läuft gut, flutscht nur so, er gleitet sehr fein, ganz easy. Ein paarmal verliere ich das Eisstück fast, fange es aber höchst elegant wieder ein, indem ich das linke Bein eine 45-Grad-Reflexzuckung vollführen lasse. Ich schaffe es gerade noch, das Eisstück zu mir zu ziehen, ehe der Holzlaster etwa einen halben Meter neben meiner Hüfte vorbeidonnert. Der Lastwagenfahrer macht sich nicht mal mehr die Mühe zu hupen, schließlich ist Dienstag, er fängt an, sich daran zu gewöhnen. Am Freitag habe ich das Eisstück schon unten am Laden verloren. Aber diesmal kann ich das Tor sehen, hundert Meter entfernt: das Gartentor. Es läuft gut, flutscht nur so, der Puck gleitet sehr fein, elegant, persönlicher Rekord. Gleich, nur noch fünfzig Meter, fünfundvierzig, fünfunddreißig, zwanzig, fünfzehn … im Hintergrund taucht ein Geräusch auf … noch zehn Meter zum Tor, acht … das Geräusch wird lauter … noch fünf Meter … der Körper spannt sich an, der Nacken wird steif, Rücken gerade, starrer Blick, den Kopf langsam nach oben drehen, in östlicher Richtung. Das Geräusch nähert sich hinter der Wolke – vier Jetturbinen auf dem Weg zum Dorf, über das Dorf hinweg und weiter nach Westen über den Atlantik.

    This is your Captain speaking .

    Ich bleibe am Gartentor stehen, sehe zu den Wolken hinauf, spanne den Körper an, konzentriere mich. Vielleicht essen die Passagiere jetzt gerade Hähnchen, zum Nachtisch Zwetschgenkuchen, vielleicht können sie zwischen Kaffee und Tee wählen. Der Kapitän und der Copilot trinken Kaffee, essen eine Vanilleschnecke, warten aber mit dem Hähnchen, bis sie sicher sein können, dass der Autopilot seinen Job korrekt erfüllt. Sie korrigieren das Navigationsradar, betrachten die Instrumente, halten nach dem Land Ausschau, sehen hinunter, sehen hinunter auf das Dorf, sehen das Dorf, sehen mich, sehen, dass ich da direkt vor dem Gartentor in Habachtstellung stehe und zu ihrer Boeing 747 hinaufschaue und Gedanken denke, von denen ich nicht wusste, dass es sie gibt.

    Ich habe die Stiefel ausgezogen und jeden Stiefel zu einem Flugzeug geformt, bei dem die Schuhspitze das Cockpit ist, der Schuh selbst die Kabine und die Schnürsenkel die Tragflächen. Die Schnürsenkel strecke ich vom Schuh weg, gerade zur Seite hinaus, so wie Tragflächen sitzen müssen, denn sonst stürzt das Flugzeug ab. Ich stelle mich zwischen die Stiefel, strecke die Arme aus, sehe zur Boeing hinauf und schaue dem Flugzeug nach, bis es hinter den Wolken da draußen über dem Meer verschwindet.

    Dann ziehe ich die Stiefel an und gehe durch das Gartentor zum Haus, in dem wir wohnen. Hab keine Lust, die Schnürsenkel zu binden, die dürfen hinter den Stiefeln herschleifen, auch egal. Außerdem tut mir der Kopf ein wenig weh, der Nacken ist auch steif. Im Flur begegnet mir meine kleine Schwester, die fragt neugierig, aufrichtig neugierig: »Warum hast du da vor dem Gartenzaun so gemacht?«

    »This is your Captain speaking«, antworte ich und gehe runter in mein Zimmer.

    Ich lege mich aufs Bett, ziehe die Strümpfe aus, versuche, die Zehen zu verdrehen, probiere aus, wie weit ich sie voneinander abspreizen kann, ehe es zu sehr weh tut. Denn wenn der Fuß selbst die Kabine ist, der Knöchel das Cockpit, die Zehen die Tragflächen …

    Die Frage meiner kleinen Schwester taucht wieder in mir auf: »Warum hast du da vor dem Gartentor so gemacht?«

    Keine Ahnung. Aber ich weiß, was passiert, wenn ich da vor dem Gartentor nicht so mache:

    Mein Hirn wird aus dem Kopf springen, sich wie ein Torpedo auf das Flugzeug zubewegen, das Flugzeug treffen, das Flugzeug massakrieren, das Flugzeug stürzt schnurgerade ab, auf das Dorf, in zehntausend Teilen, in tausend Menschenteilen, alle werden sterben. Und das alles ist die Schuld meines Gehirns.

    Das Schlimmste ist, dass es auch in der Lokalzeitung stehen wird. Mama und Papa frühstücken gemütlich, und mitten in der Gemütlichkeit schlagen sie die Zeitung auf, in der steht, dass das Gehirn ihres Sohnes eine Boeing 747, die gerade zufällig über das Dorf flog, hat abstürzen lassen. Schämen werden sie sich, ich werde mich auch schämen, und in der Schule werden Lehrer und Schüler rufen, dass es mein Gehirn war, das das Flugzeug abstürzen ließ und so Hunderte von Menschen umgebracht hat. Ja, sammel doch die Leichenteile selbst ein, du verdammter Idiot. Aber ich will nicht auf dem Weg von der Schule nach Hause Leichenteile einsammeln, ich will
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