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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich
Autoren: Pelle Sandstrak
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… nein … jetzt ist sie wieder unter mich gekrabbelt und fängt an, sich in meinen Rücken zu verbeißen. Ich donnere den Rücken an die Wand, haue mit der Hand auf den Rücken – so. Jetzt ist sie tot. Muss tot sein. Jetzt muss die Köcherfliegensauverdammt tot sein. Vielleicht ist sie in tausend Stücke geschlagen, tausend Fliegenleichenteile auf meinem Körper. Vielleicht sind die Fliegenleichenteile in meinen Rücken eingesogen worden, vergiften meinen Körper, und ich werde sterben, und ich werde auf dem Rücken im Sarg liegen, und Begräbnisbesucher mit offenen Mündern werden in Ohnmacht fallen, wenn sie sehen, dass meine Augen aussehen wie die einer Schmeißfliege, einer Köcherschmeißfliegensauverdammt. Rein ins Badezimmer, runter mit dem Spiegel, den Rücken betrachten. Aber keine Spuren. Keine Fliege. Gut. Ich gehe ins Bett zurück, lege mich auf die Seite, den Kopf an die Wand, die Beine an den Bauch gezogen. Denke an die Fliege, ans Flugzeug, ans Cockpit. Denke, dass eine Fliege aussieht wie eine Boeing 737 von hinten. Wenn man die Beine der Fliege gegen ein paar Räder austauscht, dann wird es schwer zu sagen, was was ist, fast unmöglich, wenn man ein Idiot ist, aber trotzdem gut phantasieren kann. Eine Boeing 747 hingegen, die ähnelt eher einem Wal. Einem Blauwal. Oder einem Finnwal. Nein, natürlich einem Blauwal. Und mein Gehirn ist die Harpune, die sich ihren Weg zum Flugzeug sucht, es direkt in den Benzintank trifft, poff poff poff poff und … und gute Nacht.

Wayne Gretzky hat das gesagt

    (1977) Das Ziel ist also erster Harpunier, der Weg dorthin die Schule. Ich will gut in der Schule werden, auf die Seefahrtschule gehen und dann mein Praktikum auf einem der Schiffe von Simen machen. Wenn ich mich nicht doch darauf verlege, Sportkommentator zu werden. Ich will etwas werden, was wiederum dazu führt, jemand zu sein, was wiederum zu allem Möglichen führen kann, und es kann auch gern mein ganz eigener Californian Swimmingpool im Garten dabei sein.

    Im Unterschied zu Mama und Papa scheinen die Lehrer nicht zu bemerken, dass mein Tempo seit ein paar Monaten ordentlich angezogen hat. Aber jetzt merkt man es auch im Klassenzimmer. Ich hebe die Hand, ohne zu wissen warum. Ich fluche, ohne es zu wollen. Der Körper bewegt sich, obwohl ich will, dass er still sitzt – die Finger trommeln, die Beine jucken, und die Zunge spielt unentwegt mit den Lippen. Die Konzentration ist dabei, wenn sie will, aber nicht so sehr, wenn ich will. Allmählich fange ich an, die Sachen aus dem Blick zu verlieren, ich verändere den Fokus oder finde Neues, worauf ich ihn richten kann – Geräusche in der Klasse, Autos auf der Straße, Farben, den unglaublich öden Hauptstadt-Slang vom Känguru. Wenn ich den Fokus verliere, dann merke ich, dass ich wieder zu Konzentration finden kann, indem ich den Stift ganz fest halte, ein Hockeyrund oder einen Slalomhügel ins Mathebuch zeichne oder die Finger mit dem Radiergummi dribbeln lasse. Manchmal gebe ich es auch auf, mich auf das Thema zu konzentrieren, und im Nu sind die Gedanken zu etwas anderem abgewandert – Cockpit, Walfängerausguck und Wayne Gretzky. Ich kann plötzlich mitten in einer Unterrichtsstunde dem Lehrer mit der Stimme von Wayne Gretzky antworten. Der Lehrer und die anderen in der Klasse glauben natürlich, ich würde einen Witz machen. Ich will aber keine Lacher, eigentlich will ich gar nichts. Ich fühle hauptsächlich. Das Gefühl ist das Radar, und das Radar sucht ab, es lenkt. Wenn ich wie Wayne Gretzky rede, dann finde ich zu dem Fokus zurück, den ich immer öfter zu verlieren drohe. Ich weiß nicht warum, aber so ist es.

    Die schwierigste Zeit während des Schultages ist die Mittagspause. Wir nehmen unser Essen im Klassenzimmer ein. Alle haben ihre Vesperdosen von zu Hause dabei. Um zwölf Uhr fangen alle an zu essen. Es fällt mir schwer, mich auf das Essen zu konzentrieren. Die Geräusche um mich herum stören, ich schaffe es kaum, selbst zu essen, fast alle Zeit geht dafür drauf, das Kauen und Gnatschen und Spucken der anderen nicht hören zu müssen, Knäckebrot und Möhren und Äpfel. Ich halte mir die Ohren zu, denke ganz fest an Swimmingpools, Hockeyduelle und Blauwale. Aber ich habe nicht die kleinste Chance, die Misslaute aus dem Klassenzimmer wegzudenken – sie schlagen meine Gedanken knockout, und ich verlasse klatschend oder singend oder pfeifend das Klassenzimmer. Einige lächeln verständnislos, die anderen versuchen, fertig zu
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