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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich
Autoren: Pelle Sandstrak
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stattdessen Eispuckhockey spielen.

    Ich mag die Stiefel, die Art und Weise, in der sie die bösen Gedanken verdrängen. Gelobe mir selbst, Börje Salming, Boeing 747 und Radio Luxemburg, die Stiefel mit größtem Respekt und höchster Wertschätzung zu behandeln. Sowie ein Flugzeug über das Dorf fliegt und ich mich in der Nähe des Gartentors befinde, muss ich die Stiefel ausziehen und sie zu einem Flugzeug umformen – die Schnürsenkel sind die Tragflächen, die Schuhspitze ist das Cockpit, der Schuh selbst ist die Kabine. Dann muss ich nach oben schauen, zum Flugzeug hin, ganz still stehen, zuhören, das Flugzeug vorbei lassen – dann wird es keine Katastrophe geben. Schön. Fühlt sich gut an. Gut. Mein Hirn ist an seinem Platz im Kopf. Schlage mit der Hand an den Kopf, um sicher zu sein, dass es da drin ist. Wie ein Tätscheln der Schulter, nur am Kopf. Es tut ein klein wenig weh, aber das muss ich aushalten, lieber etwas Kopfweh als eine größere Flugzeugkatastrophe. Schlage ein letztes Mal mit der Hand an den Kopf, um auf der ganz sicheren Seite zu sein. Gut. Schön. Das Gehirn ist an seinem Platz, die Flugzeuge sind sicher, Mama und Papa werden ihr Frühstück genießen können, und ich muss nach der Schule keine Leichenteile einsammeln.

    This is your Captain speaking.

Das Notritual

    Ich habe die Gedankentätigkeit einigermaßen unter Kontrolle. Das Flugzeugritual führe ich nur dann aus, wenn es wirklich sein muss, wenn die Gedanken zu stark werden – wenn ich in der Schule einen langweiligen Tag hatte, den Eispuck zu früh verliere, schlecht geschlafen habe. Manchmal führe ich das Ritual in einer Woche einmal durch, in der nächsten dreimal, und dann wieder gar nicht. Das wechselt.

    Ich steuere das Ritual insofern, als ich es nur ausführe, wenn niemand zu Hause ist, oder abends, wenn mich niemand sieht. Inzwischen muss ich sogar auf die Nachbarin Rücksicht nehmen, die Mama angerufen und gefragt hat, ob ich jetzt schon nachmittags mit dem Dehnen anfangen würde. Die Nachbarin macht mir Stress, was wiederum das Bedürfnis nach Ritualen erhöht, und das verursacht mir neue Bauchschmerzen. Als meine Mutter erzählt, dass die Nachbarin angerufen hat, rettet mich meine kleine Schwester, indem sie lächelnd sagt: »This is your Captain speaking.« Dann gehe ich runter in mein Zimmer, lege mich aufs Bett und bewege die Zehen vor und zurück, bis es richtig weh tut.

    Ich kann nicht erklären, was passiert. Es passiert einfach. Ich schaffe es nicht, nachzudenken oder das Ritual selbst zu analysieren, entscheidend ist nur, wie ich es ausführe.

    An manchen Tagen kommen überhaupt keine Flugzeuge. Wahrscheinlich sind sie da, aber ich höre und sehe sie nicht. Wenn starker Wind ist und es regnet, dann ist es fast unmöglich, die Flugzeuge zu erspähen. Aber ich habe auch bemerkt, dass sie manchmal auftauchen können, wenn ich es am allerwenigsten erwarte. Dann schaffe ich es oft nicht, die Stiefel auszuziehen, und das fühlt sich schlecht an, ganz schlecht, verdammt katastrophal, die Magenschmerzen kehren zurück. Also erfinde ich, ohne es zu planen, eine Notversion des Flugzeugrituals:

    Auf dem Weg zur Schule. Flugzeuggeräusche. Ich bleibe stehen, strecke die Arme aus, schaue zu den Wolken hoch, gebe eine Boeing 747 – brrrrr . Dieses Ritual führe ich so schnell und so effektiv durch, dass niemand es bemerkt. In ein paar Sekunden ist alles vorbei.

    Dann gehe ich weiter in die Schule.

    Das Notritual benötigt weniger Raum, ist nicht so aufwändig, und außerdem muss ich dafür die Schuhe nicht ausziehen. In den ersten Monaten führe ich das Notritual auch nicht so oft durch, und wenn die anderen fragen, was ich da mache, und das geschieht selten, dann tue ich so, als würde ich einen Witz machen: »Siehst du denn nicht, dass hier grade Ingemar Stenmark über die Ziellinie rast?«

    Diesen Witz kaufen sie ganz easy, so oft wie möglich und zu jeder Zeit.

    Ich sorge immer dafür, als Letzter ins Klassenzimmer zu gehen, denn da ist dieses Gefühl, dass es ganz gut wäre zu warten, falls im letzten Moment, ehe der Unterricht beginnt, noch ein Flugzeug über das Dorf fliegt. Dann schaffe ich es noch, das Notritual durchzuführen, ehe ich ins Klassenzimmer gehe – stehenbleiben, Arme ausstrecken, zu den Wolken hochschauen, brrrr – auf diese Weise muss ich mir keine Sorgen mehr machen, wenn der Unterricht beginnt.

    Nach ein paar Monaten kenne ich alle Flugbewegungen über dem Dorf auswendig.

Der erste
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