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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich
Autoren: Pelle Sandstrak
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alles mit Vorsatz. Der Zusammenstoß ist unausweichlich. Das Gerücht verbreitet sich, aber es bleibt auf dem Schulhof, erreicht niemals meine Mutter und meinen Vater, die mehr damit beschäftigt sind, Hilfe zu suchen, als das Mysterium der taktilen Ausflüge ihres Sohnes zu ergründen.

Das Zimmer des Rektors (Premiere)

    (1977) Fräulein Gemeinschaft hat offenbar ein Abo auf Ohrringe, denn sie wechselt sie täglich oder mindestens einmal die Woche. In den Pausen geht Fräulein Gemeinschaft auf dem Schulhof herum, sieht sich um, plaudert mit den Mädchen, gestikuliert und redet. Aber ich sehe sie gar nicht, ich sehe ein Paar farbenfroher Ohrringe, die sich auf und ab bewegen, wie lebendige Ampeln. Also:

    Der Unterricht ist zu Ende, wir verlassen das Klassenzimmer. Ich habe zwei Möglichkeiten, mir die Zeit zu vertreiben: Fußball oder Reden über Fußball. Ich bin gerade auf dem Weg zum Fußballfeld, da sehe ich Fräulein Gemeinschaft herumgehen und vielleicht hundert Meter entfernt mit dem Hausmeister reden. Und wie aus dem Nichts taucht Möglichkeit Nummer drei auf: die Ohrringe von Fräulein Gemeinschaft. Fräulein Gemeinschaft spaziert jetzt weiter, allein, und ihre Ohrringe strahlen mir einfach entgegen, scheinen mich aufzufordern, sie anzufassen, zu fühlen, zu streicheln. Mein Körper bleibt stehen, die Gedanken rennen, das Gefühl siegt – Zucken im Bauch . Die Gedanken bleiben stehen, das Gefühl siegt, der Körper rennt ready for take-off . Die Startbahn ist lang genug, ich bin schon oben im Blauen, noch ehe ich fasten your seat belts anordnen kann. Der Körper zuckt los, fliegt hinter Fräulein Gemeinschaft her, die unbekümmert weiter in Richtung Verwaltungsgebäude schlendert. Mein Körper ist ganz eindeutig ein Marschflugkörper, und nur ungefähr einen Meter, ehe Fräulein Gemeinschaft das Gebäude betritt, beiße ich mir auf die Lippe, reiße den Körper zurück, grüße Fräulein Gemeinschaft mit der linken Hand – und nehme vorsichtig ihr Ohrgehänge mit der rechten und sause weiter Richtung Schwimmhalle, Fräulein Gemeinschaft hinter mir her. Ich weiß nicht, was die anderen tun oder denken, deshalb schere ich mich auch nicht darum. Das Ohrgehänge hingegen, das Ziel dieser Reise, darum schere ich mich. Ohne den Rest des Weges noch großartig zu planen, bleibe ich vor dem Eingang zur Schwimmhalle stehen. Ein Ohrgehänge, wie eine kleine Beere geformt, sanft und weich, rein wie Backpflaumen. Fräulein Gemeinschaft hat mich jetzt eingeholt, der Sportlehrer ist auch dabei. Sie stehen ein paar Meter entfernt, fünf, vielleicht zehn Meter, und sehen mich fragend an. Ich fühle mich jetzt etwas ruhiger, als würde das sanfte Material des Ohrgehänges die Energie aus dem Körper fließen lassen.

    Fräulein Gemeinschaft kommt zu mir:

    »Gib ihn her.«

    Ich sage nichts.

    »Gib den Ohrring her.«

    Zucken im Bauch .

    Sekunden später hält mich der Sportlehrer in einer Art Sportgriff, den ich noch nicht kenne, während Fräulein Gemeinschaft panisch etwas von dem Ohrgehänge wischt, was sie für Schmutz hält.

    »Nach dem Mittagessen darfst du dem Rektor einen Besuch abstatten«, sagt sie.

    »Dem Rektor?«

    »Er wird nur ein kurzes Gespräch mit dir führen. Dir sagen, wie die Dinge so liegen. Was man tun darf, und was nicht. Geh jetzt zum Unterricht, dann isst du dein Essen, und um Viertel nach eins bist du am Zimmer des Rektors.«

    Die Tür steht offen, deshalb gehe ich direkt in das Zimmer des Rektors hinein. Ich gehe sehr schnell hinein, damit Papa mich nicht sieht. Er unterrichtet im selben Gebäude, nur hundert Meter vom Zimmer des Rektors entfernt.

    Der Rektor, der mit meinem Vater und Johan Gestapo gemeinsam zum Lachsfischen geht, steht am Fenster und schaut angespannt über den Lachsfluss, der langsam vorbeifließt, so wie er es schon seit zweihundertundfünfzig Jahren tut. Der Rektor ist eine fast exakte Kopie von Richard Nixon, nur hat er etwas weniger Haare und ist doppelt so groß wie der Präsident.

    Vor mir hatte Ove, der Südsame, eine Audienz beim Rektor. Ove wird im Frühjahr mit der Schule aufhören. Es heißt, sein Papa wird sterben, und Ove wird dann die Rentiere allein versorgen müssen. Außerdem hat er die Erlaubnis erhalten, Schneescooter zu fahren, Schneescooter-Ferien. Aber es geht auch das Gerücht, Ove würde sich das mit seinem Vater alles nur ausdenken, denn auf diese Weise kann er sich ersparen, jeden Tag fünfzig Kilometer zur Schule hin und fünfzig wieder
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