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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich
Autoren: Pelle Sandstrak
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zurück zu fahren. »Ich werde später sowieso nichts anderes machen als Rentiere«, sagt er immer.

    »Setz dich«, sagt der Rektor.

    Nach ein paar Sekunden, zehn vielleicht, vielleicht auch dreißig:

    »So, du hast also angeblich versucht, die Ohrringe von Fräulein Gemeinschaft zu klauen.«

    »Ich?«

    »Ja, du. Ist das wahr?«

    Pause.

    Der Rektor fährt fort, in freundlichem Ton.

    »Also … wir haben alle das Recht, zu sagen, was wir wollen, ohne uns immer ständig erklären zu müssen. Aber zu lügen, anstatt die Wahrheit zu sagen … ja, wie würde denn die Welt aussehen, wenn alle herumgingen und einander anlügen würden … ja, das will ich dir mal erzählen … also, in Afrika …«

    Vielleicht passiert es gerade in dem Augenblick, als der Rektor »also, in Afrika« sagt, ja, vielleicht passiert es gerade in dem Augenblick, dass ich den Kontakt zu ihm verliere, zum Tower und der ganzen Flugleitzentrale.

    Ich spüre, wie ich sitze, wie schön sich das anfühlt, das Plastik, das Weichplastik auf dem Sofa, das an meinen Hosen reibt. Wie schön es ist, mit der Hand das Plastik zu berühren, es zu streicheln, das Geräusch, der Geruch. Ich sitze mitten in einer Backpflaumentüte, von wunderbaren Düften umgeben. Es piekt und kitzelt im Kopf, ich will bleiben, hier sitzen, in die Backpflaumentüte einziehen, halleluja, schön, das Gehirn ist zur Stelle, der Kopf auch, keine Unglücke geschehen, alle Köcherfliegen sind tot, der Weltmeister, der ich bin, Wayne Gretzky und this is your Captain speaking , und … und … dann, weit entfernt irgendwo im Hintergrund ist murmelnder Waffelteig zu hören. Blubbernder Waffelteig. Der blubbernde Waffelteig kommt näher, drängt in die Backpflaumentüte hinein, der Waffelteig wird deutlicher, waffelig blubberndes Gebabbel, das fortfährt, das näher kommt, das Waffelgebabbel stößt mich wieder in die Wirklichkeit, zurück in die Schule, die Stimme wird deutlicher und noch deutlicher, und es ist die Waffelstimme des Rektors, die immer weiter blubbert über …

    »… ja, so ist das also in Afrika, und im Besonderen in Kenia. Also alle haben somit das Recht, verstanden zu werden, ohne sich ständig erklären zu müssen, aber zu lügen und nicht zu sagen, wie es wirklich war, … ja, wie würde denn die Welt aussehen, wenn alle herumgehen und einander anlügen würden … so, nun weißt du, was es bedeutet, ein Mitmensch zu sein, ehrlich zu sein … so … du kannst jetzt gehen.«

    Es ist, als würde ich aus einem Rausch erwachen, so schön – Zucken im Bauch.

    »Backpflaumen sind gut«, sage ich, ohne es vorzuhaben.

    »Was?«

    »Was?«, wiederhole ich.

    »Doch … Backpflaumen sind gut«, sagt der Rektor und sieht weiter aus dem Fenster.

    Ich drücke einen Fingernagel in das herrliche – und falsche – Sofaleder. Zucken im Bauch.

    »Ja«, fährt der Rektor fort, »du kannst jetzt gehen.«

    Die Drohpropaganda des Rektors funktioniert nicht wie gedacht. Natürlich war der Grundgedanke gut, aber die Wirkung ist gerade entgegengesetzt. Stattdessen fange ich an, das Zimmer des Rektors zu mögen. Ich verspüre überhaupt keine Bedrohung da drinnen, sondern Ruhe, Entspannung und einen anziehenden Duft von Backpflaumen. Wenn die anderen also sagen: »Pass auf, sonst landest du wieder beim Rektor«, dann antworte ich wahrheitsgemäß: »Yes, Backpflaumen.«

    Das Bedürfnis, Ohrgehänge und Geldbeutel zu nehmen und zu befühlen, ist die ganze Zeit da, aber ich schaffe es doch, mich zurückzuhalten, den Impuls zu kontrollieren, die Lust herunterzufahren. Das liegt wahrscheinlich daran, dass Papa in der Nähe ist, was in gewisser Weise bedeutet, dass ich nicht richtig loslasse. Da könnten Gerüchte in Umlauf kommen, womöglich würden die Leute anfangen zu denken, dass meine Eltern einen Verrückten zum Sohn haben. Auch wenn es nur wenige einzelne Male geschieht, kann ein seltsames Verhalten doch Missverständnisse hervorrufen, und sogar lebenslange Gerüchte. Schließlich ist es nur menschlich zu glauben, dass der Junge ein wenig verrückt ist. In dem Alter sollte man doch Fußball spielen und keine fremden Geldbeutel streicheln.

Konzentration, Teil 1

    (1978) Es herrscht ein wahnwitziges Gesurre, die Köcherfliegen gehen mir schon auf die Nerven, und dabei ist es noch nicht einmal richtig Frühling. Herbst und Winter waren gut, vor allem kalt und trocken, gute Gerüche und tote Insekten. Aber jetzt surrt es wieder. Ein früher Frühling ist überhaupt nicht
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