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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich
Autoren: Pelle Sandstrak
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gut. Fühle mich schwerer und müder, die Leute babbeln herum, im Rinnstein stinkt es nach Katzenpisse, und in eben diesem Augenblick werden Millionen von Köcherfliegen geboren, Tod allen Köcherfliegen.

    Ich versuche, die Eindrücke zu verdrängen, indem ich in der Schule besonders fleißig arbeite. Je besser die Noten, desto größer meine Chance, ein Praktikum auf einem von Simens Booten machen zu können, und dann muss ich nicht einmal in diese langweilige Seefahrtschule gehen, der direkte Weg ist doch schlauer als der geniale Weg. Aber falls Simen technische Grundkenntnisse verlangt, dann ist es doch das Beste, zu lernen, fleißig zu sein und schlau, den Weg des Genies zu wählen. Also schlage ich ein Arbeitstempo ein, das mich hoffentlich so schnell wie möglich zur See bringt. Bin ich erst mal draußen auf dem Meer, geht es mir besser denn je. Draußen auf dem Meer, an Bord eines der Schiffe, da gibt es keinen Frühling, keine Gestankseindrücke oder aggressive Köcherfliegen mit verschwitzten Flügeln, und keine babbelnden Menschen. Also fange ich an zu schuften, verdammt, jetzt werde ich es allen zeigen. Aber sie werden leider nicht viel zu sehen kriegen. Ich kümmere mich hauptsächlich um Rituale, achte darauf, sie immer öfter auszuführen, immer sorgfältiger. Wenn ich die Rituale nicht korrekt ausführe … … wird das Gehirn sich zu dem Flugzeug hinaufarbeiten, das stürzt ab, Menschen sterben, die Lokalzeitung schreibt, mein Gehirn wird brachgelegt, und ich werde niemals erster Harpunier werden, werde niemals zur See gehen können, dann wird es das ganze Jahr über Frühling sein, Köcherfliegen bis ans Ende meiner Tage …

    Also kommt es jetzt darauf an, das Ritual mit Exaktheit auszuführen. Die Stiefel genau nebeneinander aufstellen, hochschauen, das Flugzeug mit unverrücktem Blick verfolgen, die Arme ausstrecken, das Boeing-Geräusch in genau der richtigen Tonlage anstimmen.

    Am Beginn des Frühlings taucht, ohne dass ich es eigentlich plane, noch ein neues Ritual auf. Wenn ich mich auf den Stuhl im Klassenzimmer setze, muss ich eine Bewegung ausführen, von der ich glaube, dass der erste Harpunier sie macht, wenn er sich nach einem weiteren Volltreffer auf den Stuhl im Kaffeepausenraum setzt:

    Ich gehe mit kerzengeradem Rücken ins Klassenzimmer, stelle mich an die Schulbank, lege die Hände auf den Stuhl, nehme Schwung, so dass die Beine auf dem Tisch landen und der Hintern auf dem Stuhl. Wie in einer take-off-Position . Dann strecke ich die Arme zur Seite weg und stimme ein schwaches Jetturbinengeräusch an, brrrr …

    Das alles geht schnell, sehr schnell. In nur fünf Sekunden ist das Ritual vorüber. Wenn ich mich aber nicht mit symmetrischer Exaktheit hinsetze oder das perfekte Boeing-Geräusch hinbekomme, dann muss ich das Ritual wiederholen. Sonst werde ich mich nicht auf die Mathematikstunde vom Känguru konzentrieren können … … werde keine gute Zensur bekommen, ich werde niemals zur See gehen, muss im Dorf bleiben, in der Papierfabrik arbeiten, für den Rest meines Lebens mit Frühling und der Scheiße und den Fliegen zu kämpfen haben, das Gehirn wird runtergedimmt werden, wird zu einer kleinen Haselnuss schrumpfen und dann einfach nur wegsterben …

    So wird das Schulbankritual zu einem weiteren Ritual, mit dem es umzugehen gilt. Anfänglich bemerken die anderen im Klassenzimmer mein neues Ritual gar nicht. Als mein Verhalten sich immer öfter wiederholt, meinen die Lehrer, und die Schüler ebenso, ich würde Witze machen. Aber einer der Lehrer, Anton, beobachtet mich besonders genau, als wolle er mich etwas fragen, als hätte er den Verdacht, dass ich nicht witzig sein will. Das beunruhigt mich. Ich will nicht, schäme mich, wage es nicht, von den Gedanken und dem ganzen Scheiß in meinem Kopf zu erzählen. Da würden sie nur lachen und mich für einen Idioten halten, so einen richtigen haushohen Idioten, einen Affen.

    Ich versuche, die Rituale geheim zu halten, merke aber, dass das mit jedem Monat, der vergeht, schwieriger wird. Das Bedürfnis nach Zwangshandlung wächst. Auch vor jeder Klassenarbeit oder Hausaufgabe wird es immer schlimmer – ich muss die perfekte Arbeit schreiben, damit ich die perfekte Zensur kriege, den perfekten Praktikumsplatz auf dem perfekten Walfänger.

    Und so scheitere ich. Natürlich. Die Konzentration wird nicht besser, ich konzentriere mich auf alles Mögliche, nur nicht auf maritime Lösungen und mathematische Theorien. Ich bin zu
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