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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich
Autoren: Pelle Sandstrak
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Lichtreflexe von der Lesebrille.

    » Du musst als Nummer vier anfangen«, sagt er ernst.

    »Vier?«

    »Vierter Harpunier.«

    »Warum?«

    »So lauten die Regeln.«

    »Was macht der vierte Harpunier?«

    »Putzen. Erst die Klos, dann die Küche und die Tiefkühlanlagen. Das dauert fünf Jahre.«

    »Fünf Jahre?«

    »Mindestens.«

    »Und wann wird der vierte Harpunier dann erster Harpunier?«

    »Ein paar Jahre später.«

    »Ein paar Jahre?«

    »Wenn du Glück hast, wirst du nach fünf Jahren zweiter Schütze. Dann darfst du das Zielfernrohr einstellen, laden und die Ausrüstung versorgen.«

    »Wann lernt man das?«

    »Wenn man vierter Harpunier ist.«

    »Aber da putze ich doch.«

    »Das auch.«

    »Das auch?«

    »Zu Anfang wirst du dreifache Schicht arbeiten.«

    »Wie lange dauert der Anfang?«

    »Fünf Jahre.«

    »Fünf Jahre und noch fünf dazu, das macht ja zehn Jahre.«

    »Mindestens.«

    Papa blättert weiter in der Lokalzeitung. Ich frage:

    »Und wann werde ich nun erster Harpunier?«

    »Wenn du gelernt hast, hinter dir aufzuräumen.«

    »Und wann lernt man das?«

    »Wenn man es am wenigsten erwartet. Jetzt.«

    »Jetzt?«

    »Fang damit an, dein Zimmer aufzuräumen. Komm in einer Stunde wieder, dann werde ich dir erzählen, wie man auch etwas schneller erster Harpunier werden kann.«

    Papa blättert weiter in der Lokalzeitung. Ich schiebe mich ein wenig näher an die Zeitung heran. Betrachte die erste Seite. Gut. Schön. Kein Flugzeug abgestürzt, keine Leichenteile einzusammeln. Mein Gehirn ist an seinem Platz, ist zu Hause, ist bei mir, funktioniert ausgezeichnet.

Aber ich leide nicht darunter (Gute Nacht)

    Vorigen Sommer fuhr ich auf einer Tempo-60-Straße eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 90 Stundenkilometern. Das war im Grunde nichts Besonderes, ist eine Alterserscheinung, lieber zu schnell als zu lahm. In diesem Sommer sause ich hingegen mit an die 150 Stundenkilometer über dieselbe Tempo-60-Straße. Plötzlich bin ich zu schnell geworden, zu unkontrollierbar, zu viel – vor allem zu viel. Ich schaffe es nicht zu bremsen, kann mich aber trotzdem auf der Straße halten. Wie sich herausstellen wird, werde ich nie wieder einen gewöhnlichen, friedlichen 90-Stundenkilometer-Sommer erleben dürfen. Von jetzt an sause ich in meinem eigenen Tempo herum – die Energie ist mein Benzin, der Weg der Antrieb. Von jetzt an gibt es kein Halten mehr, alles wird vergehen, nichts wird mehr so sein, wie es war. Ganz egal, wie es auch war.

    Meine Laune wechselt immer häufiger, meine Zündschnur ist kürzer, ich rede lauter, sage Dinge, die ich vor einem Jahr nicht gesagt habe, fluche häufiger, spucke aus, ohne ausspucken zu wollen. Und ich weiß nicht warum. Es geschieht etwas Neues, etwas anderes, aber ich leide nicht darunter, das tue ich wirklich nicht, noch nicht. Inzwischen führe ich nahezu überall das Notritual durch – auf dem Weg zum Laden, zum Training, zur Bushaltestelle, zur Brücke, zum Fluss.

    Ich versuche, früh schlafen zu gehen. Ich setze mich auf die Bettkante, biege die Zehen mehrmals vor und zurück, bis es sehr weh tut. Schön.

    Ich habe immer größere Probleme einzuschlafen. Habe noch nie verstanden, was gut daran sein soll, Schafe zu zählen. Lieber die Anzahl Knöpfe im Cockpit einer Boeing zählen. Natürlich bin ich noch nie im Cockpit einer 747 gewesen, also denke ich mir aus, wie es da wohl aussehen könnte. Das Beste am Ausdenken ist, dass niemand widersprechen kann, keiner weiß, was richtig und was falsch ist, es gibt keine Phantasiefakten, Idioten können genauso phantasieren wie Genies.

    Also, wie sieht es denn aus, das Cockpit? Wenn ich mit der Dachverkleidung anfange, also die sitzt … da ist etwas auf meinem Rücken. Das muss eine Köcherfliege sein, eine Köcherfliege, die etwas unterhalb vom Kreuzbein sitzt oder herumspaziert oder herumkriecht. Sie bleibt stehen, vielleicht um zu scheißen, meinen Rücken einzuscheißen. Köcherfliegensauverdammt. Drehe mich im Bett herum, reibe den Rücken an der Wand, donnere den Rücken an die Wand, da, gut – Fliege tot. Ich gehe ins Badezimmer und nehme den Spiegel von der Wand, betrachte meinen Rücken. Keine Fliege. Keine Spuren, keine kleinen, runden Köcherfliegenscheißflecken auf dem Rücken. Gut. Ich kehre ins Bett zurück, lege mich auf den Rücken, schließe die Augen, denke ans Cockpit einer Boeing 747. Gute Nacht. Da ist sie wieder. Jetzt auf dem Bauch. Ich schlage mit der Hand auf den Bauch
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