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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich
Autoren: Pelle Sandstrak
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Sie den Mund auf.«

    Ich bin so nett und mache den Mund auf.

    »Es sind die Zähne.«

    Ich werde in die oralchirurgische Abteilung überwiesen. Sie machen bei drei Zähnen eine Wurzelbehandlung, ziehen zwei, befüllen sieben mit Plastik. Einen Zahn finden sie nicht, wahrscheinlich haben sie ihn fallen lassen, oder er liegt irgendwo im Chrysler. Ich werde eine zahntechnische Rehabilitierung durchlaufen und darf außerdem eine Person kennenlernen, die Psychotherapeutin und Zahnärztin in einem ist. Sie heißt Karin, und ich mag sie. Sie hilft mir durch drei weitere Wurzelbehandlungen und bringt im Verlauf eines Jahres Ordnung in meine Zähne.

    Aber bis dahin kämpfen Lasse und ich weiter gegen die Rituale. Oder freunden uns mit ihnen an. Ich habe mich noch nicht richtig entschieden. Es ist nicht leicht, etwas zu töten, das, seit ich denken kann, in meinem Kopf gelebt hat.

    Lasse und ich machen eine längere Pause, ungefähr einen Monat. Ich rufe meine Familie an und informiere sie über die Erfolge und die Behandlung und dass ich immer mehr an das zu glauben wage, was man Zukunft nennt. Sie freuen sich über meine Fortschritte, der Alltag wird leichter, allen geht es besser, und plötzlich ist die Hoffnung zu unserem neuen Familienmitglied geworden.

    Ich soll versuchen zu arbeiten, aber dann falle ich sofort in Zwänge, Tics und Rituale zurück. Ich bin noch alles andere als gesund. Wir sehen ein, dass wir intensiv weiterarbeiten müssen, und zwar jetzt an den anderen Ritualen auf der Höllenliste.

2. Mich waschen

    Es dauert immer noch lange zu duschen. Manche Tage sind besser, andere völlig hoffnungslos. Die durchschnittliche Zeit für eine Dusche liegt bei anderthalb Stunden. In die Dusche hinein, dann kommen das Handtuchritual und das Seifenritual. Das Duschritual greift dann auf Handwäsche und Geschirrspülen und andere körperliche Aktivitäten über, bei denen Sauberkeit eine Rolle spielt. Die Rituale nehmen immer noch Stunden meines Lebens in Anspruch.

    Wir gehen zur Grundfrage zurück: Wie duscht die Normalvariante eines Menschen?

    Lasse darf wieder einmal die Normalvariante eines Menschen darstellen, er benutzt seine eigene Person als Vorbild, zeigt mir, wie er duscht, wie er die Hände wäscht und die Zähne putzt. Er ist einer der Ersten, wenn nicht überhaupt der Erste, der mit Tonbandaufnahmen als Teil der Therapie arbeitet. Er spricht im Badezimmer und in der Dusche auf Band, während er mir gleichzeitig mit seinem Körper zeigt, wie er duscht. Dann soll ich das Band abspielen, seiner Stimme folgen, das Duschrezept umsetzen, als würde ich Pfannkuchen machen, und dann so duschen, wie es die Normalvariante eines Menschen tut. Denn ich habe ja vergessen, wie man duscht. Genau wie bei der Türschwelle, erinnere ich mich nicht, wann ich das letzte Mal geduscht habe, ohne zusammen mit den Ritualen Stunden in der Dusche zu verbringen. Lasse zeigt, wie er duscht, und instruiert mich gleichzeitig und nimmt diese Instruktionen auf:

    »Du hebst den linken Fuß über den Badewannenrand, dann den rechten. Drehst vorsichtig den Warmwasserhahn auf, nur so, dass das Wasser in Gang kommt, dann drehst du vorsichtig den Kaltwasserhahn auf, und dann beide gleichzeitig, so dass der Strahl mittelstark wird. Du fängst damit an, dass du die Haare nass machst. Du drehst dich herum, nach rechts, duschst den Rücken, die Rückseite der Oberschenkel und die Beine. Dann drehst du dich herum und machst dasselbe mit der Vorderseite des Körpers. Mit der rechten Hand nimmst du die Shampooflasche, drückst ein wenig Shampoo heraus, das du dann vorsichtig in die Haare einmassierst. … jetzt sind zehn Minuten vergangen, und jetzt solltest du das Duschen langsam beenden. Das tust du, indem du den Körper einmal abspülst, einmal, nicht neunmal, einmal spülst du den Körper ab. Dann drehst du den Warm- und den Kaltwasserhahn gleichzeitig zu. Du hebst den linken Fuß über den Badewannenrand, und dann den rechten Fuß. Du nimmst das Handtuch mit der linken Hand und fängst an, den Körper abzutrocknen, und zwar höchstens dreißig Sekunden. Die Duschaktion ist abgeschlossen, wenn du das Badezimmer verlässt, und zwar jetzt. Und jetzt sind vierzehn Minuten vergangen.«

    Dann übe ich es »trocken«, dusche mit Kleidern an, mit Lasse als Zeuge. Ich schalte den Kassettenrecorder ein und folge sklavisch seiner Stimme. Natürlich scheitere ich, schaffe es überhaupt nicht, mitzukommen, der Druck der Rituale wird zu groß, ich
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