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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene
Autoren: dtv
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Tür gesteckt hatte. Ich hob ihn auf und las zu meiner Überraschung die in einer schwungvollen Handschrift geschriebenen Worte:
An Frau Maja, Tochter von Lilli Sternberg, persönlich .
Als Absender war eine Lore Klopstock in der Herrengasse in Wien angegeben. War das nicht eine Freundin meiner Mutter? Aber woher wusste sie, dass ich hier war? Und was war in dem Umschlag?

 
    Nun bist du also wieder hier«, sagte Leni und sah mich mit einem Lächeln an, den Kopf leicht schief gelegt. Ich antwortete nicht gleich und ich erinnere mich, wie sie sich vorbeugte und mich anblinzelte. Sie sah schön aus, das rote Kleid stand ihr gut, in der rechten Hand hielt sie die grüne Tasse mit dem Maruschka-Bild. Sie sah mich direkt an, die Wangenknochen hoch und betont, ihr Ausdruck weniger fragend als belustigt. Ich blinzelte an ihr vorbei durch das Fenster, ihrem Blick ausweichend, und sagte: »Ja.«
    Es war Ostern 1943, ich hatte die Schule beendet, war zurückgekehrt, nach zwei Jahren in einem Internat in Danzig. Ich war siebzehn und nach Ostern würde ich die Königsberger Handelsschule besuchen. So hatten meine Mutter und mein Stiefvater es für mich entschieden. Und nun saß ich mit Leni am Fenster und sie erzählte von Paul, während ich beobachtete, wie die Spatzen im Regen umherflatterten. Lenis Augen glänzten vor Besitzerstolz.
    »Seine Augen sind dunkel, er hat eine Brille, so eine kleine, runde. Und manchmal spiegelt sich das Licht darin und du weißt nicht, ob er dich ansieht   …« Sie hatte Paul bei ihrer Freundin Dora kennengelernt, vor einem knappen Jahr, an einem Nachmittag nach Pfingsten. Er war Apotheker, Ende zwanzig und hatte gerade die Apotheke seines Vaters übernommen. Sie hatte ihn gesehen, sich sofort in ihn verliebt (»unsterblich!«) und beschlossen, ihn haben zu wollen. Drei Monate später hatte sie ihn in einer kleinen Kirche an der Ostsee geheiratet. Immer schon hatte Leni, die große Schwester, bekommen, was sie wollte, ob es nun um einen Hund ging, den sie sich sehnlichst wünschte, oder um eine Bluse, die sie im Schaufenster bei Hermanns gesehen hatte und um die sie Mutter so lange anbettelte, bis sie sie ihr nachschneidern ließ. DerHund war Leni dann bald lästig geworden und die Bluse zu langweilig. Und so war ich zu einem Hund gekommen und Ingeborg zu einer Bluse.
     
    Ich denke an damals zurück und sehe mich vor mir. Auf einem Bild, das mich mit Leni, meiner ältesten Schwester, und Ingeborg, der mittleren, zeigt, stehe ich zwischen den beiden, groß und schlaksig (obwohl ich doch die jüngste war!), die Handgelenke ragen aus den Ärmeln hervor, der Saum meines Rockes bedeckt gerade noch die Knie, ich bin schon wieder gewachsen, habe die eins siebzig hinter mir gelassen. Ich sehe unelegant aus, irgendwie zu groß geraten und selbst für damalige Verhältnisse altmodisch mit meinen langen Zöpfen, neben Ingeborg mit ihrem flotten Hut und der Handtasche. Und neben Leni, die schon früh ihren Willen durchgesetzt hatte und das blonde Haar, ganz wie es die Mode gebot, zu einer Wasserwelle gelegt trug, obwohl unsere Eltern strikt dagegen gewesen waren. Ich war fünf Jahre jünger als Ingeborg und acht Jahre jünger als Leni und war die letzte Hoffnung meiner Eltern auf einen Jungen gewesen. Ich trug schwer an der Last dieser zerschellten Hoffnung. Noch Jahre nach dem Tod meines Vaters tat ich alles, um der Sohn zu sein, den er sich immer gewünscht hatte.
    In der Schule war ich nicht gut und nicht schlecht gewesen. Die meisten Lehrer hatten mich nur dadurch wahrgenommen, dass ich immer mit den Jungen über den Schulhof rannte – eines meiner beiden Knie war ständig aufgeschlagen   –, dass ich Murmeln spielte und im Sport am schnellsten rennen konnte. Schön gehörte damals nicht zu den Attributen, die ich erstrebenswert fand, ich machte mir wenig Gedanken darüber, wie ich aussah. Meine Kleider waren mir egal, ich nahm meinungslos alles entgegen, was Leni oder Ingeborg nicht mehr gefiel. Nur wenn die Schneiderin kam und von mir verlangt wurde, so lange still zu stehen, bis sie alle Nadeln, die zwischen ihren Lippen klemmten, untergebracht hatte, revoltierte ich und sagte: »Ich hab doch das Karierte.«
    Das alles änderte sich schlagartig an dem Tag, an dem Paul in mein Leben trat.

 
    Mit dem Umschlag in der Hand machte ich kehrt, lief die Treppe hinunter und aus dem Haus. Meinen Mantel hatte ich vorsorglich angezogen, gegen die Kälte im Treppenhaus und wegen meiner angeschlagenen
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