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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene
Autoren: dtv
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mir die plötzliche Stille draußen in den Ohren rauschte. Alles erschien mir seltsam unwirklich, wie eine Welt aus Watte.
    Unter dem Blick von mindestens hundert Katzenaugen schälte ich mich aus den Decken, auf der Suche nach einer Uhr, die mir verraten würde, ob es Morgen oder Abend wäre. Wolf fiel mir ein und damit mein schlummerndes Handy und ich beeilte mich, es aus der Tasche zu fischen. Ich öffnete das Fenster weit, zündete mir eine Zigarette an und hielt den Hörer an mein Ohr. Der Empfang war hier schlecht und ich fürchtete schon, ich müsste mich anziehen und in verzweifelter Suche nach einem »Pegel« durch Wiens Straßen irren, doch kurz darauf tutete es und ich hörte Wolfs Stimme, die entgegen seiner sonstigen Art atemlos und gehetzt klang.
    »Na endlich«, sagte er als Erstes und ich erwiderte, dass es mir leidtue, wegen des Handys, und dass ich das Gefühl hätte, in einem Albtraum erwacht zu sein. Ich erzählte ihm von der Pathologie und auch von dem Umschlag.
    »Ist denn kein Brief dabei oder sonst etwas, das die   … Angelegenheit näher erläutert?«, fragte Wolf mit seiner Bassstimme, in seiner feinen Art.
    »Kein Brief, kein Zettel, nichts. Und ich glaube auch nicht, dass sie den Umschlag als Botschaft für mich gedacht hatte.«
    Wolf sagte leise: »Bist du dir da ganz sicher? Immerhin hat sie sich   … nun, sie hat selbst Hand an sich gelegt.«
    »Es fällt mir schwer, das zu glauben, obwohl   …«
    »Obwohl was?«
    »Erna Buchholtz, das ist eine Nachbarin, vielleicht auch so etwas wie eine Vertraute meiner Mutter, sie wohnt im Erdgeschoss desselben Hauses, und sie sagt, dass Mutter Krebs hatte   … Metastasen in der Lunge   …«
    »Ja, aber dann   … vielleicht hat sie anderswo einen richtigen Abschiedsbrief hinterlegt.«
    »Jedenfalls hat der Polizist bei der Identifizierung nichts davon erwähnt. Aber ich habe ja noch ein Gespräch mit ihm.«
    »Ach ja?«
    »Ja.« Eine Pause entstand. Dann sagte ich: »Vielleicht finde ich in der Wohnung etwas.«
    »Du hast noch nicht nachgesehen?«, fragte er ungläubig.
    Ich antwortete nicht gleich, sondern druckste herum: »Äh   … Nein. Ich tu mir so schwer, da hineinzugehen.«
    »Maja! Wenn ich   …«
    »Nee, lass mal. Ich schaff das schon. Ich brauch nur ein bisschen Zeit.«
    Wolf schwieg. Ein wenig zu hastig sprach ich weiter: »Trotzdem   … sie wollte mich doch sprechen. Warum hätte sie mich sonst hierher bestellt? Nur um sich quasi vor meiner Nase umzubringen? Das passt nicht zu ihr, das hätte sie niemals getan.«
    »Weißt du das denn so genau?«
    »Ja«, schnappte ich, »das weiß ich
genau

    »Immerhin hattet ihr nicht das beste Verhältnis.«
    »Ja, aber so etwas hätte sie   … wie soll ich sagen   … verachtet.« Ich machte eine Pause, suchte nach den richtigen Worten. »Wenn sie mir, sagen wir mal so, abschließend eins hätte auswischen wollen, wenn es das ist, worauf du anspielst, hätte sie sich vielleicht wirklich vom Balkon gestürzt (obwohl ich auch das für äußerst unwahrscheinlich halte). Aber sie hätte mich niemals hierher bestellt und die Gelegenheit versäumt, mir ins Gesicht zu sagen, was es ihrer Meinung nach zu sagen gab. Sie war zwar undiplomatisch und hart, aber nicht hinterhältig. Dafür fehlte ihr einfach die Geduld.« Ich hatte immer schneller und hastiger und immer lauter gesprochen und jetzt lauschten wir beide auf den Nachklang meiner Worte. Dann sagte Wolf: »Aber   … kannst du dir nicht vorstellen, dass sie es einfach aus einer tiefen Verzweiflung heraus getan hat?«
    »Sag mal, willst du mir hier richtig einheizen, oder was!«, entfuhr es mir. Lauter und barscher als beabsichtigt. »Das ist alles schon fürchterlich genug. Da brauche ich nicht noch jemanden, der den Katalysator für mein schlechtes Gewissen spielt.«
    »Das wollte ich doch nicht, Maja, wirklich nicht!« Wolf klang betroffen und meine heftige Reaktion tat mir sofort leid. Wir blieben beide stumm, jeder auf der Suche nach den richtigen Worten. Bis Wolf sagte: »Ich möchte nur nicht, dass du   … auf seltsame Ideen kommst.«
    »Auf was für Ideen sollte ich denn kommen?«, fragte ich, ehrlich erstaunt.
    Wolf atmete aus: »Ach, lass uns aufhören. Morgen setz ich mich ins Flugzeug und komm zu dir.«
    Ich ging nicht darauf ein und fragte stattdessen: »Was für Ideen meinst du?«
    »Nichts. Ich meine nichts.«
    »Ich will jetzt wissen, auf welche
Ideen
du anspielst!«
    Wolf reagierte nicht, doch als ich
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