Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
niemals.«
    Erna nickte, ernst und langsam, doch sie schien meine Überzeugung nicht zu teilen. »Nein. Unter normalen Umständen hätte ich das auch weit von mir gewiesen. Lilli war so   … energisch. Sie verachtete Schwächlinge oder Leute, die sich hängen ließen. Aber   …«
    Ich wischte mir übers Gesicht. Erna stand auf, strich meine Bettdecke glatt und zurrte das Kissen zurecht, das in meinem Rücken steckte.
    »Ja?«, fragte ich.
    »Andererseits erfordert gerade so ein Akt großen Mut.«
    »Mut oder eine tiefe Verzweiflung.« Ich trank den letzten Schluck Tee.
    »Wann haben Sie denn zuletzt mit Ihrer Mutter gesprochen?«, wollte Erna wissen.
    »Am 8.   August vor drei Jahren. Um 16.45   Uhr. Nach der Beerdigung meiner Oma.«
    Erna hielt in ihren Bewegungen inne, und als sie mir Tee nachschenkte und Zucker hineinschaufelte, tat sie dies gründlich, zu gründlich. Dann seufzte sie und ich fühlte mich zu der Erläuterung genötigt: »Wir, meine Mutter und ich, fanden esausreichend, nichtssagende Karten zum Geburtstag und zu Weihnachten auszutauschen.«
    Erna Buchholtz ging nicht auf meinen bitteren Tonfall ein. »Ich glaube, sie hatte große Angst   …« Sie verstummte wieder und ich lauschte ihren Worten nach, erschrocken und schuldig.
    »Ja, aber   … da kann man doch was machen, gegen die Schmerzen.« Auch in meinen eigenen Ohren klangen mein Tonfall und meine Worte lahm und abgedroschen. Rechtfertigungen für das Versagen der eigenen Person. Aber, verdammt noch mal, wofür sollte ich mich eigentlich rechtfertigen? Schließlich war sie es gewesen, die immer etwas an mir auszusetzen gehabt hatte. Selbst am Tag von Großmutters Beerdigung hatte sie es nicht lassen können. Bitterkeit stieg in mir auf bei der Erinnerung. Ich hatte mir die Haare kurz schneiden und blondieren lassen, einen wilden Schnitt, der in alle Richtungen abstand. Und nach Jahren der Funkstille waren ihre ersten Worte an mich gewesen: »Es gibt Frauen, die sich so eine Frisur leisten können. Andere sehen damit aus wie eine Witzfigur. Man sollte wissen, zu welcher Gruppe man gehört.«
    »Ich meine eher die Angst vor der Hilflosigkeit«, sagte Erna in meine Gedanken hinein. Und da musste ich wieder an das hagere Gesicht auf dem Stahltisch denken. An die eingefallenen Wangen, die gelbliche Färbung ihrer Haut. Mutter war immer schlank gewesen. Als junges Mädchen, auf alten Fotos, wirkte sie biegsam und elegant, zierlich trotz ihrer Größe von 1,75   Meter. Die Biegsamkeit war später, mit zunehmendem Alter, zu Zähigkeit mutiert, aber dürr war sie nie gewesen. Und selbst an Großmutters Beerdigung hatte ich noch gedacht, was für eine schöne Frau sie doch war. Ich starrte auf das Katzenmuster auf der Bettwäsche. Pastellene Katzen, die mit pastellenen Wollknäueln spielten, ein Albtraum in Biberqualität.
    »Bei welchem Arzt war sie denn?«, fragte ich, vielleicht etwas zu unvermittelt, denn Erna blickte mich irgendwie seltsam an – war sie überrascht oder unangenehm berührt?
    »Bei Dr.   Prohacek. Seine Praxis ist nicht weit von hier. Aber da gibt es   …«
    In dem Moment klingelte es an der Haustür. Erna stand auf, ihre Schritte quietschten, sie trug immer noch die Gummisohlenschuhe, und dann hörte ich sie an der Haustür mit jemandem sprechen, einem Mann. Wenig später hörte ich, wie etwas klimperte, dann schloss sie die Tür und stand kurz darauf wieder vor mir, zwei Schlüssel in der Hand: »Unser Hausmeister hat mir die Zweitschlüssel für Lillis Wohnung gegeben. Er ist ein paar Tage nicht da und er dachte, falls man hineinmüsse   …«
    Ich nahm sie entgegen, sie fühlten sich warm an. Ich sah Erna an, die meinen Blick erwiderte, bedrückt, wie es schien. »Na ja«, sagte sie dann zu mir und ich antwortete: »Na ja.«
     
    Eine Stunde später stand ich vor Mutters Wohnungstür im dritten Stock, den Schlüssel in der Hand. Ich sah mich um, blickte in das altehrwürdige Treppenhaus mit dem klapprigen schmiedeeisernen Fahrstuhl, den ich bei mir »die Eisenfalle« nannte; dem Terrazzoboden und der Jugendstilbordüre, die sich grün und schwarz durchs Treppenhaus rankte. Dann hob ich den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Ich öffnete die Tür einen Spalt breit, ein schleifendes Geräusch war zu hören, das verstummte, als ich die Tür halb geöffnet hatte. Beim Eintreten fiel mein Blick auf einen braunen DIN-A 5-Umschlag , der auf dem Boden lag und den jemand offensichtlich durch den Briefschlitz in der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher