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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene
Autoren: dtv
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Gesundheit, und so empfand ich die kalte Nachtluft, die mir entgegenschlug, als wohltuend und erfrischend. Ein paar Straßen weiter steuerte ich eine Kneipe an, die nach Alkohol und Anonymität aussah. Am Automaten zog ich mir eine Packung
Camel
, verdrückte mich in eine schlecht beleuchtete Ecke und bestellte, Erkältung hin oder her, einen Gin Tonic. Dann fingerte ich mir eine Zigarette aus der Packung und öffnete den Umschlag. Er enthielt eine Nachricht von Lore Klopstock sowie einen zweiten, kleineren und versiegelten Umschlag, auf dem Großmutters Siegel, CB, Charlotte Benthin, prangte.
    Liebes Fräulein Maja, ich hätte Ihnen den Umschlag gerne persönlich überreicht, aber ich bin zurzeit im Krankenhaus, wegen meiner Diabetes, sodass ich einen Boten damit beauftragt habe. Diesen Umschlag gab mir Ihre Frau Mutter vor circa zwei Wochen. Ich weiß nicht, was er enthält, aber ich denke, dass es in Lillis Sinne ist, wenn ich ihn an Sie weiterreiche. Ich bin zutiefst bestürzt über den Tod Ihrer Mutter, Sie war mir eine gute Freundin und ich versichere Sie meiner tief empfundenen Anteilnahme. In Trauer, Ihre Lore Klopstock.
    Ich berührte das Siegelwachs, es fühlte sich hart an und glatt, ich schluckte, schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, stand der Wirt vor mir, stellte den Gin Tonic auf einen Bierdeckel und kritzelte eine Zahl darauf. Ich nickte ihm zuund drehte dann den Umschlag in meinen Händen. Ich betastete ihn behutsam und fühlte etwas Kleines, Hartes. Ich schob den Finger hinein und riss ihn vorsichtig auf, dann kippte ich ihn um. Heraus fielen ein Schlüssel und ein Foto. Es fiel mit der Vorderseite nach unten, und auf der Rückseite stand:
Wir beide in Hohehorst, März 1944
. Langsam drehte ich das Bild um. Das war Oma, Oma Charlotte, als ganz junge Frau. Und das Kind musste meine Mutter sein. Was war sie für ein rosiges und rundgesichtiges Baby gewesen! Das runde Gesichtchen lugte lachend aus einer Kappe heraus, die unter dem Kinn gebunden war, und die dicken Backen zeugten von Wohlsein und Gesundheit. Oma Charlotte lachte auch. Die Sonne beschien die beiden von der Seite und Charlottes Zöpfe, die sie zu einer Art Kranz um den Kopf gewunden hatte, leuchteten wie eine Aureole; das Haar meiner »Babymutter«, das vorne unter der Mütze hervorsah, war dunkel.
    Aber das eigentlich Ergreifende war der Ausdruck auf Charlottes Gesicht, das Strahlen ihrer Augen, die Glückseligkeit und die unbedingte Liebe, mit der sie ihr Kind betrachtete. So als hielte sie den kostbarsten Schatz der Welt in ihren Armen. Und so war es wohl in der Regel auch: Für eine Mutter war der kostbarste Schatz ihr Kind. Ob meine Mutter
mich
je so betrachtet hatte? Wenn ja, so musste das vor meiner Zeit gewesen sein, dachte ich bitter und kämpfte mit den Tränen – diesmal waren es Tränen des Selbstmitleids.
    Ich stopfte beides, den Schlüssel und das Bild, in den Umschlag zurück. Ich trank das Glas mit einem Zug leer, stand auf, legte einen Schein auf den Tisch und verließ die Kneipe. So hatte sie mich niemals angesehen, da war ich mir sicher. Und während ich durch die nächtlichen Straßen zurück zu Ernas Wohnung lief, rätselte ich, was es mit dem Schlüssel auf sich hatte. Und warum Mutter es für nötig gehalten hatte, den Schlüssel und auch das Foto bei Lore Klopstock in Verwahrung zu geben.
     
    Ich erwachte von Ernas vorsichtigen Bemühungen, mir das Foto aus den Fingern zu ziehen. Ich zuckte zusammen, sie ebenfalls, doch dann murmelte sie begütigend.
    Nach meiner Rückkehr in Erna Buchholtz’ Wohnung hatte ich mich auf direktem Wege ins Gästezimmer begeben, schweigsam und in mich gekehrt, Ernas Fragen ausweichend. Ich hatte die Tür hinter mir geschlossen, mich ins Bett gesetzt, die Decke um mich herum festgestopft und noch einmal das Foto aus dem Umschlag genommen. Dann war ich eingeschlafen.
    Jetzt ließ ich Erna gewähren, die das Foto auf den Nachttisch legte, eine Tasse Tee danebenstellte und sich dann leise wieder entfernte. Ich setzte mich auf, trank den Tee in kleinen Schlucken. Etwas drängte in mein vernebeltes Gehirn, etwas Wichtiges, das es zu erledigen galt, doch ich war zu müde, und sosehr ich auch grübelte, ich kam nicht darauf.
     
    Ich erwachte mit bohrenden Kopfschmerzen und zerschlagenen Gliedern. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren und fühlte mich so, wie ich mich früher manchmal gefühlt hatte, nach durchzechten Nächten, wenn ich um drei aus der Disco gekommen war und
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