Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
so: Ich muss mit dir über etwas sprechen.«
    Ich zögerte. Mutter war nicht der Typ, der um den heißen Brei herumredete. Was ich oft bedauert hatte, denn ihre Direktheit war verletzend und ein bisschen mehr Diplomatie hätte ihr gut zu Gesicht gestanden. Was also konnte so wichtig sein, dass meine starrköpfige Mutter ihr über Jahre gehegtes Schweigen nun brach?
    Sie sagte: »Es ist wichtig.«
    »Na   … dann   … Ich hab Zeit. Du kannst sprechen.«
    Sie schnaubte wieder und fuhr mich an: »Nicht am Telefon! Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss   … und zeigen.«
    Ich überlegte. Was sollte
das
denn bedeuten? Wollte sie mich besuchen kommen? Mich mit Wolf unter die Lupe nehmen und womöglich feststellen, dass   …
    »Es wäre das Beste, wenn du kämst«, schnitt sie meine Überlegungen ab.
    »Na ja   …« Ich versuchte Zeit zu gewinnen. Im Moment war es schwer, hier alles stehen und liegen zu lassen. In der kommenden Woche konnte ich auf keinen Fall hier weg, denn ichmusste den Fliesenlegern, die im Haus eines meiner Kunden arbeiteten, hin und wieder eine Stippvisite abstatten. Also sagte ich: »In einer Woche. Vorher geht’s auf keinen Fall.«
    Sie zögerte einen Moment, ehe sie mit etwas zittriger Stimme antwortete: »Also gut. Dann in einer Woche.«
     
    Der Flieger kreiste über Schwechat, drehte nach Osten hin ab und landete in der Warteschleife. So hatte ich noch ein wenig Zeit nachzudenken. Durch den Nieselregen erkannte ich ein sumpfiges Gewässer, das ich früher nie gesehen hatte. Groß und grau und stumpf lag es da, umgeben von einem braunen Schilfgürtel, seltsam unberührt und wie herausgelöst aus der übrigen Landschaft, die aus Feldern und Siedlungen bestand. Als habe nie ein Mensch die Einsamkeit zu stören gewagt. Ich war nervös, ich hatte Lust zu rauchen, mich an etwas festzuhalten. Grübeleien kamen und gingen und irgendwann, vielleicht nach der dritten Schleife, nahm der Flieger wieder Kurs auf den Flughafen und wenig später, viel zu früh, spürte ich das Vibrieren der Räder auf Beton. Bald würde ich ihr gegenüberstehen.
    Nach Oma Charlottes Tod war Mutter »ganz« nach Wien gegangen. Ganz bedeutete, dass sie Omas Haus in Lindau, in dem sie hin und wieder während ihrer Einsatzpausen gewohnt und Oma Gesellschaft geleistet hatte, an eine siebenköpfige Familie vermietet hatte. Das Ferienhaus an der ligurischen Küste hatte sie für ihren Gebrauch behalten. Ich dachte bedauernd daran, denn ich wäre gerne wieder einmal hingefahren.
    Mutter war Dolmetscherin bei den Vereinten Nationen, ein mnemotechnisches Wunderkind, und ich wusste, dass man sie sogar jetzt noch, mit Mitte sechzig, hin und wieder holte. Denn das hatte neben dem obligatorischen
wünscht dir Mutter
auf der letzten Weihnachtskarte gestanden. Natürlich hatte sie es sich nicht verkneifen können, mir diese Nachricht zukommen zu lassen – und damit die Botschaft, dass
sie
immer noch »auf höchster Ebene« mitmischte.
     
    Am Volkstheater verließ ich die U-Bahn und wartete oberirdisch auf die Straßenbahn. Wenn ich es recht in Erinnerung hatte, brauchte ich die Linie 19.   Ich war die Einzige, die hier herumstand, und daraus schloss ich, dass ich sie gerade verpasst hatte. »Wie du die größte Chance deines Lebens verpasst hast«, hätte Mutter in ihrer pathetischen Art dazu sicher gesagt. Und hinzugefügt, dass ich ein schwieriges Kind gewesen sei.
    Mir war kalt, aber vielleicht lag das an der Wiedersehensangst. Im Volkstheater waren schon die Lichter an. Eine Weile lang stand ich mit hochgezogenen Schultern herum und träumte mich in die Wärme. Und in die Sicherheit. Jetzt einfach so dasitzen und zwischen Unbekannten auf eine Bühne sehen dürfen.
    »Du willst dein Leben damit verbringen, den Leuten zu sagen, wo sie ihre Sessel hinstellen sollen?«, hatte Mutter bleich, die Lippen ein Strich, herausgepresst, als ich ihr verkündete, was ich in Zukunft tun wollte. Und das war für Jahre der letzte Satz gewesen, den ich mir angehört hatte. In der Zeit, die darauf folgte, war es meine Großmutter Charlotte, die hin und wieder ein Wort über Mutter verlor, sodass ich zumindest wusste, dass sie noch lebte. In diesen Jahren schafften meine Mutter und ich es manchmal, uns nur ein paar Stunden voneinander getrennt die Klinke in Charlottes Haus in die Hand zu geben. Nachdem das Schweigen fünf Jahre gedauert hatte, war es Charlotte zu bunt geworden und sie hatte diese Stunden herausgeschnitten und uns, Mutter und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher