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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene
Autoren: dtv
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musste sie sich verändert haben. Wie sehr musste die Krankheit sie verändert haben!
     
    Schon im Gang hörte ich das Zimmertelefon schrillen und beeilte mich, die Tür aufzuschließen.
    Es war Wolf und ich hörte seiner Stimme an, dass er sich Sorgen machte.
    »Warum kannst du dieses verdammte Ding nicht anlassen?«, fragte er statt eines Grußes. Mit dem »Ding« meinte er das Mobiltelefon, das er mir letztes Weihnachten geschenkt hatte und das ich meist zu Hause in der Schublade aufbewahrte.
    »Wolf, mein Lieber, Lieber«, flüsterte ich zittrig und brach in Tränen aus. Ich berichtete, was es zu berichten gab, in wenigen Sätzen. In der Leitung blieb es still. Wolf war kein Mann überflüssiger Worte. Er war riesengroß und wirkte tatsächlich wie ein Seewolf, breitschultrig und mit einer tiefen Stimme. Er war Maler, Stukkateur und Restaurator. Wir hatten uns bei der Arbeit kennengelernt, als ich für einen Auftrag in Südtirol »den Besten« suchte. Wolf hatte zu dem Zeitpunkt eine kleine Wohnung in Bozen, doch führte er schon damals ein recht nomadenhaftes Leben, immer unterwegs von einem Einsatzort zum nächsten.
    »Maja   … das ist ja entsetzlich.« Und dann fügte er hinzu: »Komm nach Hause, Maja.«
    Wie immer hatte er sofort erfasst, wie es um mich stand. Ich nickte, und als mir einfiel, dass er mich ja nicht sehen konnte, setzte ich ein »Ja« hinzu. Und dann weinte ich wieder. Als ich nicht mehr konnte, fiel mir ein, dass ich ja die nächste Angehörige meiner Mutter war und vielleicht nicht einfach so wegfahren konnte. »Ich muss wohl heute noch zur Polizei. Und dann   … jemand muss sich um die   … Beerdigung kümmern, und das werde wohl ich sein.«
    »Dann komme ich zu dir. Ich nehm den nächsten Flieger.«
    Ich schluchzte noch einmal. Es wäre zu schön, Wolf da zu haben, mich von seinen riesigen Armen umschlingen zu lassen wie von einem weiten, warmen, weichen Mantel. Doch dann fiel mir ein, dass er an einem Auftrag arbeitete, der in zwei Tagen fertiggestellt sein sollte, und ich sagte so fest und entschieden, wie ich konnte: »Nein. Du machst deinen Auftrag fertig. Ich muss hier ja auch erst einmal alles sehen   …« Was genau ich hier zu »sehen« hatte, wusste ich selbst nicht. Wir redeten noch eine Weile hin und her, draußen vor der Zimmertür rauschte ein Staubsauger. Schließlich konnte ich Wolf davon überzeugen, dass es so das Beste wäre und dass ich mich auf jeden Fall abends wieder melden würde. »Schalt das Telefon ein«, sagte er zum Abschied. Und: »Ich denk an dich«, was mich wieder zum Weinen brachte, aber erst nachdem ich aufgelegt hatte.
     
    Immer schon habe ich mir gewünscht, tough zu sein. Ein Pokerface zu haben, in dem nicht alle gleich lesen, wie es um mich bestellt ist. Nicht gleich bei jeder rührseligen Szene im Kino zu spüren, wie einem die Tränen in die Augen treten. Außerdem gibt es Lieder, die kann und darf ich nur hören, wenn ich alleine bin.
    Jedenfalls schmiss ich mich, nachdem Wolfs Stimme am Telefon verklungen war, bäuchlings aufs Bett und schrie undschluchzte in das Kissen. Irgendwann verging der Krampf, ich kramte eine Zigarette und ein chinesisches Notizbüchlein aus der Tasche, rauchte und versuchte eine Liste der Dinge zusammenzustellen, die jetzt zu erledigen wären. Polizei, Haustürschlüssel?, Beerdigung, wo? Ein paar Leute, wahrscheinlich waren es eher viele, mussten benachrichtigt werden, ich musste also Karten drucken lassen und sie verschicken. Die Adressen würde ich bei Mutter in der Wohnung finden. Ich musste mit Erna Buchholtz sprechen und sie fragen, ob Mutter irgendwann einmal etwas erwähnt hatte hinsichtlich, äh, der Bestattungsart. Ogottogott, dachte ich, was ist das alles fürchterlich! Ob Mutter sich etwa eine Feuerbestattung gewünscht hatte? Die Grabpflege fiel mir ein, noch etwas, um das sich Angehörige zu kümmern hatten. Kurz blitzte der Wunsch in mir auf, Oma Charlotte würde noch leben, sie hätte mir sagen können, was zu tun wäre. Doch dann fand ich mich egoistisch und überlegte, dass alles anders gekommen wäre, wenn Oma Charlotte noch gelebt hätte. Dann hätte sich Mutter wahrscheinlich gar nicht erst umgebracht. Ein Haufen Konjunktive, ein Haufen Fragen. Und musste nicht auch ihr Hausstand aufgelöst werden? Ich stellte mir vor, wie ich in Mutters Sachen kramte, wie ich einen Container bestellen würde. Aber nein, halt, eine Firma, die Haushaltsauflösungen organisiert, müsste das erledigen. Erst ganz
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