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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene
Autoren: dtv
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am Schluss fiel mir das wohl Wichtigste ein: Ob ich Mutter etwa, wie man das im Fernsehen sah, »identifizieren« musste?
     
    Erna Buchholtz war sich sicher: »So war das auch bei meinem Erwin. Der hat sich totgesoffen und man hat ihn gefunden, auf einer Bank im Prater. Da hat er gesessen und ist einfach gestorben.«
    Sie nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht und das Bedauern grub noch tiefere Furchen auf ihre Wangen. Dann schnitt sie eine Grimasse und fügte hinzu: »Als er nicht nach Hause gekommen ist, hab ich schon gewusst, dass wasSchlimmes passiert sein musste. Bis irgendwann die Polizei vor der Tür gestanden hat, und dann hab ich ihn halt anschauen müssen, im AKH, in der Pathologie ist er gelegen. Und ich hab ihn erst gar nicht erkannt, weil er so schwarz ausgeschaut hat, um den Mund herum, mein Gott, Kind, ich kann Ihnen sagen, das war das Schwerste, was ich je hab tun müssen im Leben.« Ihr Blick verlor sich in der Ferne, in einer Vergangenheit, die nur sie sehen konnte, die mir aber deshalb nicht weniger leidvoll erschien. Jetzt, wo mir Ähnliches bevorstand. Ich atmete tief durch, stellte die Tasse ab und sagte: »Na, dann werd ich mal.«
    Erna Buchholtz kehrte in die Gegenwart zurück, sie sah jetzt irgendwie erschrocken aus. Dann sagte sie: »Ach, Kind, das hab ich Ihnen gar nicht erzählen wollen, jetzt, wo Sie   …« Sie brach ab. Ich nickte und sagte: »Schon gut. Vom drüber Schweigen oder Schönreden wird’s auch nicht besser.« Ich griff nach meinem Mantel. »Da muss ich halt jetzt durch.«
    Erna betrachtete mich und das Mitleid machte ihr runzliges Gesicht ganz weich, sie sah aus wie eine etwas verknautschte Eule. Ich seufzte und meine Stimme zitterte, als ich fortfuhr: »Sie könnten mich begleiten und draußen warten. Das   … wäre wirklich eine große Hilfe.«
     
    In der Metro die üblichen U-Bahn -Gesichter: bleich, großstädtisch, ungesund. Sie zeugten von zu viel Zeit in geschlossenen Räumen, zu wenig Sonne und Luft und von Vitamin- D-Mangel . Ich fiel also kaum auf. Erna und ich saßen nebeneinander und sprachen kein einziges Wort. Dieses Schweigen hatte nichts Peinliches oder Fremdes an sich. Es war das Schweigen zweier Menschen, die wussten, dass es im Moment nichts zu sagen gab, was irgendetwas geändert hätte.
    Der Polizist wartete bereits. Ein gemütlicher Mitfünfziger mit schütterem Haar namens Cincek. Erna und ich folgten ihm in einen riesigen Fahrstuhl und dann Korridore entlang. Wir wechselten einen beklommenen Blick und Ernas Gummikreppsohlenquietschten, was mich in einer anderen Situation sicher zu unangemessenen Heiterkeitsausbrüchen inspiriert hätte.
     
    Und dann war es so weit. Erna war vor der Tür stehen geblieben. Ich trat ein, ich zitterte, wegen der Kälte oder aus Furcht. Auf einem Stahltisch lag eine Gestalt, von einem weißen Tuch bedeckt. Der Pathologieangestellte warf Cincek einen kurzen Blick zu, dieser antwortete mit einem knappen Nicken, einem Nicken, das davon sprach, dass der Polizist Cincek das hier schon viele Male getan hatte. Der Pathologiemann hob das Tuch und da sah ich sie. Mutter. Ich hatte Angst gehabt, Angst vor dem Anblick, vor den Verletzungen und Entstellungen. Aber da war nichts. Einzig der Kopf war in einem etwas unnatürlichen Winkel zurückgebogen, wie abgeknickt. Ihr Gesicht war nahezu unversehrt, und dennoch war es so anders. Sie war mager geworden und ihre Gesichtshaut war wächsern und gelblich. Ich konnte nicht sagen, ob sie friedlich aussah oder entspannt, ich wusste gar nichts mehr. Nur dass ich zu spät gekommen war. Und dass ich dieses Bild bis an mein Lebensende mit mir herumtragen würde. Mit den Jahren würde es verblassen wie eine alte Fotografie, aber ich würde es immer bei mir tragen.
    Ich öffnete den Mund, um etwas zu fragen, aber es kam nur ein klägliches, bedauernswertes Krächzen heraus. Der Polizist Cincek sagte, als habe er meine Gedanken gelesen: »Sie ist mit dem Rücken nach unten aufgekommen. Ihr Genick   …« Er brach ab und sah mich an. Ich nickte. Und das war das Letzte, woran ich mich erinnere.
     
    Ich erwachte auf einer Liege in einem Raum, dessen Decke und Wände weiß waren. Im ersten Moment kam mir der Verdacht, ich selbst sei vielleicht auch gestorben, einfach so, doch dann hörte ich ein Geräusch, ein Rascheln und quietschende Schritte, jemand nahm meine Hand und ich erkannte ErnasKirschäuglein, die sich auf mich hefteten. Sie blinzelte mir zu, ich blinzelte zurück,
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